"Neues Glück auf Immenhof"

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Andrea1984
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Kapitel 106

Beitrag von Andrea1984 »

„Hier ist es gemütlich.“, meinte Bobby und schloss beruhigt auf einer braunen Decke liegend die Augen. Der Wind strich um ihre Nase. Gegenüber auf der anderen Seite der Salzach stritten sich zwei Enten um einen Brocken Brot. Hasso gefiel es so gar nicht, dass Bobby seelenruhig diesen Nachmittag verschlief. Andererseits was sollte sie denn sonst bei den schwülen Temperaturen tun?

Nach einer anstrengenden Einkaufstour hatten Bobby und Hasso die Tüten ins Hotel gebracht und danach diesen schattigen Ort unter dem Mozartsteg entdeckt. Viele andere junge und jungebliebene Leute schliefen ebenfalls an den Ufern der Salzach. Entweder direkt auf dem Gras oder sie hatten sich einfach ihre Jacken untergelegt. Auf der Staatsbrücke hupten die Autos. Langsam bildete sich ein Stau. Doch Bobby erwachte davon nicht. Für einen kurzen Augenblick verschwand die Sonne hinter einer Wolke. Hasso blickte besorgt zum Himmel. Würde das Wetter wie angekündigt aushalten?

Hasso dachte an den Reiseführer, den er dummerweise im Hotelzimmer vergessen hatte. Da standen viele interessante Informationen drinnen. Allzu billig war dieses Teil zwar nicht gewesen, doch es hatte sich – bis jetzt – schon sehr gelohnt. So wie gestern bei dem Ausflug mit der Festungsbahn auf die Festung Hohensalzburg, von der es hieß, dass kein Feind einst diese Burg eingenommen habe.

Ursprünglich wollten Bobby und Hasso, wie viele andere Touristen auch, das Geburtshaus des Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart in der Getreidegasse Nr. 9.besichtigen. Doch jeden Tag standen soviele Menschen davor Schlange, dass es selbst der geduldigen Bobby irgendwann zuviel wurde: „Da bleibt uns nur eines übrig. Die Fassade photographieren und uns eben daran erfreuen.“

Erst als die Sonne rot hinter dem Kapuzinerberg unterging, erwachte Bobby und streckte sich. Dafür sah Hasso aus, als ob er jeden Augenblick einschlafen würde und fragte „Nun, wohin gehen wir jetzt?“
Bobby zuckte mit den Schultern: „Hier gibt es soviele schöne Restaurants. Doch leider sind sie nicht gerade billig. Ich hoffe, du hast noch genug Schillinge bei dir in der Geldtasche. Oder weißt, wo es einen Bankomaten gibt. Sonst müssen wir heute wohl oder übel auf unser Abendessen verzichten.“

Hasso stand auf und klopfte sich die Grashalme von seinem T-Shirt: „Mach‘ dir keine Sorgen, Bobby. Geld hab‘ ich noch genug. Und ich weiß jetzt, wo es einen Bankomaten gibt. Nämlich auf der anderen Seite der Salzach auf dem Alten Markt. Dort steht eine Filiale der Salzburger Sparkasse. Bestimmt werde ich dort Schillinge bekommen, wenn ich welche benötige. Zu dumm nur, dass wir ständig umrechnen müssen, was nun zwei Tassen Kaffee oder zwei Stücke Kuchen in D-Mark kosten.“

Hasso zog Bobby galant hoch. Dann schlenderten sie über den Mozartsteg. Und bogen nach rechts ab. Bobby blieb immer wieder am Rudolfskai stehen, um einen Blick auf die schönen alten Häuser und Inschriften zu werfen: „Sieh‘ mal, Hasso. Da ist ja ein Friseur. Ich muss gleich morgen dorthin gehen. Meine Haare wachsen wie Kraut und Rüben durcheinander. Ich sehe einfach nur schrecklich aus.“
„Du gefällst mir immer, das weißt du genau. Dein Haarschnitt ist da eher nicht so wichtig für mich.“

Inzwischen waren Bobby und Hasso am oberen Ende des Rudolfskai angelangt. Bobby runzelte enttäuscht die Stirn: „Also ich weiß nicht recht. Den Rathausplatz hab‘ ich mir irgendwie anders vorgestellt. Längst nicht so klein und unübersichtlich. Außer einem Bäckerladen, einen Schuhladen, einer Bank und einem Spielzeuggeschäft scheint ja hier nichts allzu besonders los zu sein.“

Aber Bobby irrte sich gründlich. Noch ehe sie den Rathausplatz überquert hatte, stach ihr etwas oder vielmehr jemand deutlich ins Auge. Eine Frau mit langen, braunen Haaren trug einen Korb auf dem Rücken und hielt, das konnte Bobby beim Näherkommen nun besser erkennen, kleine braune Holzvögel in der Hand. Gerade war die Frau dabei Eislöffel aufzuklauben und in dem braunen Lederbeutel zu verstauen, den sie um den Hals trug. Zu den Füßen der Frau befand sich eine kleine Pfütze. Einer der Holzvögel mit den roten Federn und dem grünen Hut hatte einen nassen Schnabel.

Viele Leute standen teils in großen, teils in kleinen Gruppen um die Frau herum. Sie sprach einen Dialekt, den Bobby nur mühsam verstand. Hasso erkundigte sich bei der Frau, ob er ein Photo von ihr machen dürfe. Sie erlaubte es und fügte hinzu, dass es bereits 17:45 Uhr sei und dass sie gleich Feierabend mache. Sie stünde bereits seit 12:00 Uhr hier. Und werde morgen wiederkommen. Entweder verkaufe sie die Marionetten – so nannte sie die Holzvögel – hier oder bei Schlechtwetter in der Getreidegasse, neben Mozarts Geburtshaus. Jetzt sei Hochsaison, da könne sie nicht weg.

Bobby bewunderte die alte Handwerkskunst. Hasso kaufte der Frau schließlich eine Marionette ab.
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Andrea1984
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Kapitel 107

Beitrag von Andrea1984 »

Aus der Richtung des Residenzplatzes erklang eine Melodie, welche weder Bobby noch Hasso kannten. Dies sei das Glockenspiel, meinte die Frau mit den Marionetten, welches jeden Tag um 7:00 Uhr, um 11:00 Uhr und um 18:00 erklinge. Nun sei es Zeit für sie ihre anstrengende Arbeit für heute zu beenden. Die Frau nahm die Marionetten in die Hände und verschwand in Richtung Mozarts Geburtshaus. Im Gewühl konnte sie problemlos untertauchen. Bald verlor sich ihre Spur.

„Ich bin froh, dass die Marionettenfrau auch D-Mark problemlos angenommen hat.“, meinte Hasso erleichtert und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Und sie hat Hochdeutsch gesprochen.“
Bobby betrachtete die Marionette, welche in einer Plastikfolie eingeschweißt war: „Die wird unseren Kindern bestimmt gefallen. 20 Jahre Garantie hat die Marionettenfrau gesagt. Ich finde es erstaunlich, dass eine einfache Handarbeit so viele Jahre lang halten soll. Wir werden sehen, ob es stimmt.“

„Gib‘ mir die Marionette.“, bat Hasso. „Sie passt genau in meinen Rucksack. Er ist groß genug.“
„Noch etwas anderes ist groß. Nämlich mein Hunger. Hoffentlich finden wir bald ein Restaurant.“
Hasso verstaute die Marionette und schloss den Rucksack wieder ab. Bobby schob ihre Sonnenbrille von der Nase auf die Stirn. Und knotete ihr Jeansjacke fester um ihre schmalen Hüften.

Leider waren viele Restaurants auf dem Alten Markt und in der nahegelegenen Judengasse hoffnungslos überfüllt. Aber Bobby gab nicht so schnell auf: „Wir werden schon etwas finden.“
„Bis dahin hab‘ ich zwei große Blasen auf den Fersen vom vielen Spazierengehen.“, jammerte Hasso eher im Scherz. „Dann muss ich morgen im Hotelzimmer bleiben, weil die Schmerzen groß sind.“

Eine Weile alberten Bobby und Hasso miteinander herum. An diesem Tag hatten sie keinen Blick mehr für die alten denkmalgeschützten Gebäude auf dem Alten Markt und dem Residenzplatz. Auch dem Denkmal von Wolfgang Amadeus Mozart auf dem Mozartplatz schenkten Bobby und Hasso nur eine flüchtige Aufmerksamkeit. Sei es aus Desinteresse oder sei es deshalb, weil sich gerade eine Gruppe Japaner (oder waren es Chinesen) davor drängelte und laut gestikulierend Photos knipste.

Jemand aus der Gruppe rief etwas von „Sound of Music“. Bobby horchte auf. Sie kannte das Musical zumindest vom Hören-Sagen her: „In jedem Reiseführer steht etwas darüber geschrieben.“
„Dabei ist es schon viele Jahre her, dass das Musical hier gedreht worden ist. Warum hat es heute noch immer so einen Bekanntheitsgrad, besonders bei den Japanern?“, wunderte sich Hasso darüber und blieb im nächsten Augenblick stehen, um sich einen Stein aus dem Schuh zu entfernen.

Was Hasso nicht wissen konnte: Sound of Music war (und ist nach wie vor) im Ausland bekannter, als in Salzburg selbst. Viele Touristen kamen (und kommen) in die Stadt an der Salzach weniger wegen Wolfgang Amadeus Mozart, sondern einzig und alleine wegen Sound of Music. Kein Wunder hatte der Regisseur Robert Wise viele Schlüsselszenen des Musicals an Schauplätzen wie z. B. dem Mirabellgarten, dem Kloster Nonnberg (zumindest die Außenaufnahmen), dem Schafberg in der Nähe von St. Wolfgang, dem Schloss Leopoldskron, der Felsenreitschule etc. drehen lassen.

Einzig die Original Trapp-Villa, in welcher die Trapp Familie von 1923 bis 1938 lebte, stand (und steht auch heute) nicht für die Öffentlichkeit zur Verfügung. Dieses Detail wurde, ob zufällig oder nicht, in den Reiseführern meist weggelassen. So glaubten viele Touristen, dass die Trapp-Familie entweder in Schloss Lepoldskron oder in Schloss Frohnburg gelebt habe. Was jedoch nicht der Wahrheit entsprach. Auch die Namen der Kinder waren im Film geändert worden, aus unbekannter Ursache.

Liesel, Friedrich, Louisa, Kurt, Brigitte, Martha und Gretl – diese Namen gingen offenbar auf die Ideen des Regisseurs zurück. Mit den richtigen Namen – Rupert, Agathe, Maria Franziska, Werner, Hedwig, Johanna und Martina – konnten nur wenige Menschen etwas anfangen. Und um ehrlich zu sein, interessierte sich 1980 kaum jemand dafür, dass die überlebenden Mitglieder der Trapp Familie zurückgezogen in Amerika, bis auf Johanna, die mit ihrem Mann und ihren Kindern in Wien wohnte, lebten. Maria Augusta von Trapp, ja sie hieß tatsächlich so, war inzwischen knapp 75 Jahre alt.

In diesem Jahr hatte sie die Leitung der Logde, unter diesem Namen war das Wohnhaus der Familie Trapp in Amerika bekannt, an ihren Sohn Johannes übertragen, der – genau wie seine Schwestern Rosemarie und Eleonore – weder im Musical, noch in den Heimatfilmen von 1956 und 1958 erwähnt wurde. Georg Ludwig von Trapp, Johannes Vater, war bereits 1947 im Alter von 67 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Zumindest standen diese Informationen so in den Reiseführern drinnen. Bobby interessierte sich sehr für das Schicksal der Trapp Familie, doch Hasso eher weniger.
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Kapitel 108

Beitrag von Andrea1984 »

„So jetzt kenne ich die Familiengeschichte der Trapps. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“, vollendete er Bobbys Ausführungen. „Du hast den Reiseführer auswendig gelernt.“
„Da steht noch mehr interessantes drinnen. Nämlich etwas über das berühmte Marionettentheater.“, plauderte Bobby lebhaft weiter. „Es liegt am anderen Ufer der Salzach. Hier, das ist, laut Reiseführer, der Mozartsteg. Nachdem wir diesen überquert haben, fahren wir mit einem Bus der Linie 5, oder der Linie 6, beides ist möglich, hinüber zur Haltestelle: Theatergasse. Die Fahrt dauert fünf Minuten.“

Hasso willigte in Bobbys Vorschlag ein. Der Bus war hoffungslos überfüllt, aber das störte die beiden nicht. Ein Jugendlicher saß am Fenster und blickte in Richtung Rudolfskai. Laute Musik drang über die Kopfhörer nach draußen. Der Jugendliche kaute Kaugummi und achtete nicht auf das, was in seiner Umgebung vor sich ging. Eine Dame kauerte sich ängstlich auf einem der vorderen Plätze zusammen. Ihre Hände umklammerten einen schwarzen Stock. Das weiße Haar trug sie kurzgeschnitten.

„Nächster Halt, Theatergasse. Umsteigen zu den Linien....“, quäkte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Hasso betätigte den Knopf. Der Bus blieb an der entsprechenden Haltstelle vorschriftsmäßig stehen. Bobby stieg aus. Hasso folgte ihr dicht auf den Fersen. Gemeinsam überquerten sie die große Kreuzung des Makartplatzes und blieben vor dem Landestheater stehen. Das Marionettentheater befand sich in einem Nebengebäude. Hoffentlich gab es noch Karten.

„Ein Platz ist noch frei.“, gab die Dame an der Abendkasse freundlich Auskunft. „Ich bedauere es sehr. Doch die Vorstellungen der „Zauberflöte“ sind, besonders jetzt in der Hochsaison, schon oft Wochen im Vorhinein ausgebucht. Heute hat es sich kurzfristig ergeben, dass jemand erkrankt ist, deshalb den Termin nicht wahrnehmen kann und uns daher ein wenig verärgert die Karte zurückerstatten musste.“

Hasso legte Bobby behutsam den Arm um die Schultern: „Geh‘ nur ruhig hinein. Ich werde mich derweilen in ein Kaffeehaus setzen und dort auf dich warten, egal wie lange es heute Abend dauert.“
Bobby war sprachlos vor Freude. Hasso bezahlte die Eintrittskarte: „Viel Freude wünsche ich dir.“
„Das Cafe Bazar ist gleich gegenüber von unserem Haus.“, ergriff die Kassadame wieder das Wort. „Dort bekommen Sie guten Kaffee und ein anständiges Stück Torte oder lieber einen Kuchen.“

Binnen weniger Minuten füllte sich das Foyer mit Menschen, die vornehm gekleidet waren. Bobby schämte sich fast ein wenig für ihre Jeans und die weiße, kurzärmelige Bluse. Doch Hasso meinte: „Das ist doch nicht so schlimm. Die vielen Zuschauer konzentrieren sich heute Abend bestimmt nur auf das Geschehen auf der Bühne und weniger auf dich. Außerdem kennt uns hier niemand.“

Bobby hatte kaum Zeit sich in das Programmheft zu vertiefen, schon begann die Vorstellung. Der rote Samtvorhang hob sich und eine rhythmische Melodie erklang. Bobby war davon so ergriffen, dass sie alles andere um sich herum vergaß. Ein Marionettentheater gab es in Malente nicht. Mit roten Wangen und klopfendem Herzen verfolgte Bobby das Schicksal des Prinzen Tamino und dessen Freund Papageno. Wie viele Abenteuer doch die beiden bestehen mussten, um endlich glücklich zu sein.

In der Pause gönnte sich Bobby eine Erfrischung am Buffet. Die Luft war schwül und gedrückt. Jemand zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch stieg Bobby in die Augen. Hastig räusperte sie sich. Plötzlich rief eine bekannte Stimme: „Nanu, das ist ja Billy. Was machst du denn hier?“
Bobby zuckte zusammen. Wer hatte da zu ihr gesprochen? Und wer verwechselte sie mit Billy?

„Ach du bist es, Dick. Wie schön dich wiederzusehen.“, dämmerte es nun Bobby, als sie erkannte, wer da neben ihr bei dem weißen Tisch stand. „Ich hätte dich beinahe nicht gesehen. Kein Wunder, bei sovielen Leuten hier. Wo ist Ralf? Wie geht es dir? Was machen die Kinder? Was gibt es Neues?“
Dick dämpfte ihre Zigarette aus: „Ralf liegt im Hotelzimmer. Er hat sich ein Magenleiden zugezogen. Doch es scheint nichts ernstes zu sein, laut der Diagnose des Arztes. Die Kinder sind zu Hause.“

Bobby verstaute das Programmheft in ihrer Handtasche: „Ist der lange Flug über den Atlantik nicht zu teuer für Ralf und dich? Habt ihr euch bei euren Kindern schon gemeldet, als ihr hier angekommen..“
„Wieso Atlantik?“, unterbrach Dick und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ralf, die Kinder und ich leben schon seit einem halben Jahr in Lübeck. Ralf arbeitet nun wieder als Graphiker.“

Leider hatten Bobby und Dick keine Möglichkeit das Gespräch fortzuführen. Die Pause war zu Ende. Bobby ließ ihren Blick durch den Zuschauerraum schweifen und stellte fest, dass Dick nur wenige Reihen vor ihr saß. Bobby konnte sich daher nun fast nicht mehr auf die Handlung konzentrieren.
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Kapitel 109

Beitrag von Andrea1984 »

„Wieso lebt Dick mit ihrer Familie wieder in Kanada? Und warum weiß Dalli noch nichts davon?“, schoss es Bobby durch den Kopf. „Irgendetwas ist da faul im Staate Dänemark. Dalli schreibt nach wie vor die Briefe an die Adresse in Kanada. Vermutlich wird die Post weitergeleitet. Deshalb dauert es auch immer so lange, bis eine Antwort von Dick kommt. Dalli achtet nicht auf den Poststempel.“

Die Melodie „Ein Mädchen oder Weibchen“ riss Bobby aus ihren Tagträumen. Viele Leute klatschen den Rhythmus mit, obwohl sich das ja eigentlich nicht gehörte. Einer dicken, blonden Dame, die neben Bobby saß, liefen die Tränen der Freude über die massigen Wangen „Ich hab‘ diese Oper schon oft gesehen. Diese Melodie berührt mich jedesmal wieder auf’s Neue.“, flüsterte sie halblaut.

Bobby achtete nicht auf den Kommentar, sondern konzentrierte sich nun wieder auf die Handlung. Alles ging gut aus. Das war eher untypisch für eine Oper. Wieder und wieder verbeugten sich die Marionetten. Schließlich traten sogar die Puppenspieler hinter der Bühne hervor. Die Figur des Papageno wurde von niemand geringerem als der Intendantin Prof. Margarethe Aicher geführt.

Nach der Vorstellung zündete sich Dick abermals eine Zigarette an: „Ich sollte mir das Rauchen allmählich abgewöhnen. Ralf meint, dass ich ein schlechtes Vorbild für unsere Kinder bin.“
Bobby trat verlegen von einem Fuß auf den anderen: „Entschuldigst du mich bitte, kurz.“
Dick nahm an, dass Bobby die Toilette aufsuchte und nickte verständnisvoll: „Ich warte gerne.“

Verdammt. Nun saß Bobby in der Tinte. Vor dem Marionettentheater wartete Dick und im Cafe Bazar Hasso. Bobby grübelte, doch sie fand keinen Ausweg. Da half nur eines: Die Flucht nach vorne.
„Ich hab‘ leider keine Zeit für ein Gespräch.“, lehnte Bobby hastig ab. „Wir sehen uns bestimmt bald wieder. Grüße Ralf und die Kinder von mir. Ich bin sehr müde und will nur noch schlafen gehen.“

Hastig tauchte Bobby in der Menge unter und hoffte, dass Dick diese Ausrede schluckte. Außer Atem kam Bobby im Cafe Bazar an. Hasso blätterte in einigen Illustrierten und nippte an seinem Kaffee: „Was ist geschehen? Warum bist du so aufgewühlt? Hast du ein Gespenst gesehen? Oder ein Ufo?“
Bobby nahm Platz. Sogleich trat ein Ober heran und fragte, was er denn der Dame bringen dürfe.

Hasso legte die Illustrierten beiseite. Bobby atmete tief durch. Dann erst nahm sie die Speisekarte zur Hand. Was waren das für merkwürdige Namen wie z. B. ein „Verlängerter“ oder ein „Großer Brauner?“
„Der Kaffee ist sehr stark.“, warnte Hasso. „Ich werde sicher die halbe Nacht nicht schlafen können.“
Bobby bestellte sich doch lieber einen Früchtetee. Das Getränk kannte sie ja von zu Hause aus.

Hasso saß zwar an einem Tisch, der am Fenster stand. Doch die Aussicht ging hinüber zum Makartsteg und nicht zum Marionettentheater. Der Ober nahm die Bestellung auf und eilte hinüber Richtung Küche. Es saßen nur wenige Gäste im Cafe Bazar. Zwei alte Männer am Nebentisch spielten Schach. Lautlos glitten die Figuren über das Spielbrett. Das erinnerte Bobby an früher.

„Stell‘ dir vor, wen ich gerade im Marionettentheater gesehen habe.“, ergriff sie nun das Wort.
Hasso rührte gelangweilt in seiner Kaffeetasse herum: „Keine Ahnung. Jemand berühmten, vielleicht den Schah von Persien oder die Königin von England oder etwa gar ein Mitglied der Trapp Familie?“
Bobbys Augen waren noch immer starr vor Schreck. Doch nun verzogen sich die Mundwinkel.

Wenige Minuten darauf brachte der Ober den Früchtetee. Hasso bat um die Rechnung. Viel Geld war zwar nicht mehr in seiner Brieftasche, doch es reichte noch, um die Zeche bezahlen zu können.
Erst als sich der Ober wieder auf den Weg zur Küche gemacht hatte, plauderte Bobby weiter: „Viel schlimmer. Es ist Dick. Sie hat mich mit Billy verwechselt und mir erzählt, dass sie nun wieder in Europa, genauer in Lübeck lebt. Ralf arbeitet als Graphiker, also in seinem alten Beruf.“

Hasso runzelte die Stirn: „Und was ist so schlimm daran? Das verstehe ich jetzt nicht so ganz.“
Bobby nippte an ihrem Früchtetee: „Sag‘ mal bist du wirklich so doof oder stellst du dich nur so. Dick lebt in Europa. Und hat Dalli nicht darüber Bescheid gesagt. Was steckt wohl hinter dieser Taktik?“
„Was auch immer es ist, uns geht es nichts an.“, erwiderte Hasso kühl und sachlich.

Die Stimmung zwischen Bobby und Hasso war auf dem Nullpunkt angelangt. Bobby sorgte sich, ob Dick nicht etwa im gleichen Hotel longieren würde. Doch wenigstens in diesem Punkt gab es keine Gefahr. Der erfahrene Nachtportier, welcher heute Dienst hatte, blätterte alle Eintragungen sorgfältig durch und meinte dann, dass ihm der Name Barbara Schüller nicht wirklich bekannt vorkomme.
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Kapitel 110

Beitrag von Andrea1984 »

Zur gleichen Zeit auf dem Immenhof. Alexander blickte vorwurfsvoll auf die Uhr. Dabei hatte er an diesem Abend doch gar nichts besonderes vor. Naja, eigentlich doch. Und zwar in Ruhe mit Dalli bei einem Glas Wein und einer Packung Kekse plaudernd auf der Terrasse sitzen. Das alles hätte sich problemlos durchführen lassen, wenn da nicht soeben ein Anruf für Dalli hereingekommen wäre.

Alexander zündete sich eine Zigarette an. Er wusste genau: Dalli telephonierte gerne lange, besonders wenn sie denjenigen oder diejenige am anderen Ende der Leitung gut leiden konnte. Um wen es sich in diesem Fall handelte, war Alexander nicht bekannt. Dalli lachte ein paar Mal herzlich. In Alexander stieg die heiß lodernde Eifersucht hoch. Hoffentlich handelte es sich um keinen Gesprächspartner, sondern eher um eine Gesprächspartnerin wie eine der Zwillinge oder Dick.

Dabei hatte der jungebliebene Gutsherr keinen Grund auf seine Frau eifersüchtig zu sein. Mochte sie in jungen Jahren die eine oder die andere Liebschaft gehabt haben, in der Ehe war es vorbei damit.
Alexander dachte nur selten an seine erste Frau zurück. Er hatte sie gemocht und auch respektiert, das ja, doch sein Herz gehörte Dalli. Alexander musste sich an diesem Abend gestehen, dass er in den vielen Jahren die zwischen seiner ersten und seiner zweiten Hochzeit gelegen waren, beinahe vergessen hatte, was es hieß zu lieben und jemandem treu, ja gerade zu bis in den Tod, zu sein.

Plötzlich kam ein leichter Windstoß auf, welcher die Haustüre zufallen ließ. Alexander machte sich keine Sorgen, er trug immer einen Schlüssel bei sich. Mit wem telephonierte Dalli bloß? Er konnte ihr Lachen im Augenblick nicht hören. Doch das besagte wenig. Aus Rücksicht auf die kleinen Mädchen, welche schon schliefen – oder es zumindest tun sollten – lachte Dalli am Abend selten laut heraus.

Alexander kratzte sich an den Unterarmen. Seine Haut war rot. Hoffentlich bekam er keinen Sonnenbrand. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Alexander arbeitete den ganzen Tag hart in der frischen Luft. Und war eigentlich die Sonne schon gewöhnt. Zu dumm nur, dass ausgerechnet heute die Sonnencreme alle war. Und er vergessen hatte, eine neue Tube im Dorfladen zu kaufen.

Alexander gähnte halblaut. Er war, wie jeden Tag um 5 Uhr früh aufgestanden. Und wollte eigentlich schon längst ins Bett gehen. Aber Dalli zuliebe hatte er sich dazu überreden lassen, noch ein wenig auf der Terrasse sitzen zu bleiben. Die Sonnenblumen waren inzwischen verblüht. Und die Felder abgeerntet. Alexander atmete die frische Luft ein und genoss die ruhigen Minuten im Freien.

Sonst hatte er ja nicht viel Gelegenheit dazu. Einerseits gab es die viele Arbeit im Stall und auf den Feldern. Andererseits waren da noch seine jüngsten Töchter, die ihm viel Freude bereiteten. Sie würden schon ihren Weg gehen, davon war Alexander überzeugt. Bis dahin würde noch viel Wasser den Inn – dieser Fluss war dem Gutsherren spontan eingefallen, weil er in diesem Augenblick an Bobby und Billy dachte, die sich in Süddeutschland und Österreich aufhielten – hinunterfließen.

Von den kleinen Töchtern, über die Zwillinge, war der Weg, den Alexanders Gedanken nun gingen, zur Zarin, die inzwischen im 81. Lebensjahr stand, nicht mehr allzu weit. Seit einigen Wochen litt die Zarin unter einer hartnäckigen Bronchitis, welche sich trotz der angewandten Hausmittel nicht kurieren ließ. „Ich gehe nicht ins Krankenhaus.“, betonte die Zarin immer wieder. „Was soll ich dort?“
Sie brüstete sich damit, ob tatsächlich oder nicht, niemals in einem Krankenhaus gewesen zu sein. Ihren Sohn Alexander hatte sie damals, was durchaus möglich war, zu Hause zur Welt gebracht.

In dieser Hinsicht zeigte sich die sonst so konservative Zarin durchaus fortschrittlich. Und war auch einverstanden damit, dass ihre Enkelkinder und Urenkelkinder in familiärer Umgebung zur Welt kamen. Und wenn sie darauf aufmerksam gemacht wurde, dass doch das Risiko für Mutter und Kind höher war, dann meinte die Zarin nur: „Es kann immer und überall etwas schlechtes geschehen.“

Alexander hatte inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. Er konnte nur schwer schätzen, ob Dalli nun eine halbe Stunde oder sogar noch länger telephonierte. Draußen war es finster. Aber das hatte gar nichts bedeuten. Im August wurden die Tage langsam wieder kürzer, auch wenn das auf den ersten Blick, besonders an den lauen Sommerabenden, nur schwer nachvollziehbar scheinen mochte.

Es näherten sich Schritte. Alexander richtete sich hastig auf: „Nun bist du endlich da.“
Dalli nahm in dem zweiten Korbsessel Platz und lächelte ihren Mann herzlichst an: „Tut mir leid, dass es solange gedauert hat. Doch das Telephongespräch ist wichtig gewesen, das kannst du mir glauben. Ich bin nämlich draufgekommen, dass mich jemand aus heiterem Himmel hintergangen hat.“
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Kapitel 111

Beitrag von Andrea1984 »

„So wer denn?“, erkundigte sich Alexander interessiert, während er seiner Frau reinen Wein einschenkte. In der Ferne schnaubte einer der Hengste. Vermutlich handelte es sich um Scheitan.
Dalli griff zu dem halbvollen Glas und leerte es in einem Zug hinunter. Im nächsten Augenblick veränderte sich ihre Stimmung. Dalli verzog ihre Lippen, die nun schmal wie ein Strich aussahen.

„Vorhin am Apparat das war Bobby. Sie hält sich noch in Salzburg auf. Du glaubst nicht, wer ihr dort über den Weg gelaufen ist.“ In aller Kürze berichtete Dalli alles genau, was ihr Bobby erzählt hatte.
Alexander zeigte sich, eher unbeabsichtigt, genauso verständnislos wie Hasso im Hotelzimmer: „Warum hat Dick es dir nicht schon früher erzählt, dass sie sich wieder in Deutschland aufhält?“

„Genau das meine ich ja damit.“, schäumte Dalli vor Wut. „Dick hat mich hintergangen. Sowas hätte ich von ihr nie erwartet. Am liebsten würde ich sie heute noch anrufen, doch das geht ja leider nicht.“
Alexander versuchte zu vermitteln: „Wie wär’s damit, dass du dich mit deiner Schwester triffst und in Ruhe über alles redest? Vielleicht hat sie es einfach vergessen, dich zu darüber zu informieren.“

Dalli riss die Kekspackung ruckartig auf. Einige Kekse fielen heraus und kollerten quer über den Fußboden: „Ja klar. Vergessen. So alt ist Dick nun auch wieder nicht. Ich versteh‘ schon, dass sie sich nicht meldet, wenn sie gerade im Umzugsstress ist. Doch das liegt schon ein halbes Jahr zurück.“
Alexander bückte sich, um die Kekse wieder aufzusammeln. Es kam selten vor, dass Dalli, wie in diesem Augenblick, einen ironischen Tonfall zeigte. Doch nun war es offenbar wieder soweit.

„Mach‘ dir doch bewusst, was das bedeutet.“, startete Alexander den nächsten Versuch. „Dick ist deine einzige Schwester. Sonst hast du doch keine nächsten Angehörigen mehr. Wenn sonst auch alles schiefgeht, kannst du dich immerhin noch auf sie verlassen. Und sie auf dich gewiss ebenso.“
Dalli schüttelte den Kopf: „Die Zeiten sind leider längst für Dick und mich vorbei. Ab einem gewissen Alter hat Dick nur noch auf sich selbst geschaut. Ob das mit Ralf zusammenhängt, ich weiß es nicht.“

Alexander griff abermals zur Weinflasche. In diesem Augenblick war ihm bewusst geworden, dass er Dick nicht wirklich kannte. Bei dem einen Besuch damals auf dem Immenhof hatte sie sich von ihrer liebenswürdigen Seite gezeigt. Doch hinter dem strahlenden Äußeren, verbarg sich ein harter Kern in Form eines ziemlichen Dickkopfes. Wenn Dick etwas wollte, so probierte sie alles, um es zu haben.

„Lass‘ uns eine Nacht darüber schlafen.“, bat Alexander. „Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus. Du wirst sehen, dass alles halb so wild ist. Im ersten Zorn sagt und tut man oft Dinge, die man später bereut – dann allerdings nicht mehr rückgängig machen kann. Gib‘ deiner Schwester doch noch eine Chance. Sie wird schon ihre Gründe haben, warum sie wieder nach Deutschland ....“

„.... gegangen ist.“, vollendete Dalli den Satz kühl. „Das ist mir egal. Mich stört es vielmehr, dass mir Dick nichts davon erzählt hat, dass sie wieder hier ist. Irgendeinen Grund dafür muss sie doch haben.“
Alexander knabberte an den Keksen herum. Was sollte er dazu noch sagen? Im Grund genommen, interessierte es ihn nicht, weder warum Dick in Deutschland war, noch warum sie Dalli nichts gesagt hatte.

Plötzlich polterte etwas im Haus. Erschrocken sprang Alexander, wie von der Tarantel gestochen auf: „Ich muss nachsehen, was da geschehen ist. Hoffentlich hat es nichts mit Mamá zu tun. Komm mit.“
Hastig kippte Dalli den letzten Schluck aus der Weinflasche hinunter. Und folgte anschließend Alexander nach drinnen. Im ersten Augenblick gab es keine Veränderung: „Wo ist deine Mutter?“

Alexander antwortete nicht, sondern raste wie ein geölter Blitz die Treppe hinauf. Gottseidank bei Henny und Chrissy, deren Zimmertür zumeist nachts offenstand, war alles in Ordnung. Dalli deckte ihre Töchter liebevoll zu, während Alexander unruhig von einem Zimmer ins nächste eilte. „Mamá ist nicht in ihrem Schlafzimmer. Und auch nicht im Bad.“, stieß er hastig hervor. „Mamá antworte mir.“

Im nächsten Augenblick stürmte Alexander die Treppe nach unten. Dalli atmete tief durch. Tatsächlich. Alexander hatte Recht. Die Zarin hielt sich nicht im ersten Stock auf. Im Stall vermutlich ebenso wenig. Und auch nicht in Alexanders Arbeitszimmer. Nur noch wenige Möglichkeiten blieben.
Vielleicht in der Küche? Fehlanzeige. Alexander rannte noch immer wie ein aufgescheuchtes Huhn herum. Doch dann blieb er wie angewurzelt stehen. „Komm, Dalli, komm schnell her!“, rief er

Im nächsten Augenblick wusste Alexander nicht wohin er zuerst schauen sollte. Vor ihm saß seine Mutter zusammengesackt im Lehnstuhl. Und in seinen, starken Armen lag seine ohnmächtige Frau.
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Kapitel 112

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„Alles ist schief gegangen.“, murmelte Billy vor sich hin, während sie an dem Gatter der Weide lehnte und in den blauen, leicht bewölkten Himmel starrte. „Schiefer geht es ja wirklich nicht mehr.“
Nathalie trat zu ihrer Arbeitskollegin heran: „Aber, aber. So schlimm wird es ja doch nicht sein.“
Billy zog einen Brief aus der Jackentasche: „Mein Vater hat geschrieben. Er schickt jeden Tag entweder ein Telegramm oder einen Brief. Und hält mich auf diese Weise auf dem Laufenden.“

„Wie geht es deiner Großmutter heute?“, erkundigte sich Nathalie, nicht nur höflich, sondern auch tatsächlich interessiert und machte Anstalten sich auf die oberste Latte des Zaunes zu setzen. Im nächsten Augenblick knirschte das Holz. Erschrocken sprang Nathalie auf die Füße. „Hoffentlich hab‘ ich mir jetzt keinen Holzsplitter in den Hintern gezogen. Sowas kann nämlich ziemlich wehtun.“

Billy musste sich mehrmals räuspern, ehe der Frosch im Hals endlich verschwand: „Großmama liegt nun teilnahmslos zu Hause. Sie kann sich weder bewegen, noch mit Vati und Dalli verständigen. Die Ärzte meinen, dass sich Großmama nie wieder von dem Schlaganfall ganz erholen wird und kann.“
Nathalie öffnete ihre großen und starken Arme. Im nächsten Augenblick lag schon Billy darin und weinte sich bei ihr aus: „Es ist so schrecklich. Wenn ich doch nur bei ihr gewesen wäre, dann ja ...“

„Mach‘ dir keine Vorwürfe. Du kannst nichts dafür. Und Bobby ebensowenig.“, versuchte Nathalie zu trösten. „Mit gezielten Therapien, die allerdings sehr teuer sind - könnte man es schaffen, deine Großmutter wieder auf die Beine zu bringen – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Wichtig ist: Sie muss aktiv dabei mitmachen. Sie darf sich nicht noch mehr fallen lassen. Dann wäre alles umsonst.“

Billy brach abermals in Tränen aus: „Wenn das nur alles wäre. Seit gestern ist auch noch Abraxas weg. Ethelbert hat ihn bestimmt schon an jemand Fremden verkauft. Heute ist mein Unglückstag.“
Eine schwarze Katze lief von links nach rechts über die Straße. Aber Billy konnte diese aus ihrer Sicht nicht erkennen. Nathalie vermied es, darüber zu sprechen. Und strich Billy liebevoll durch das Haar.

„Komm‘ lass uns zurück gehen. Ethelbert wird sich wundern, wo wir solange bleiben.“, schlug Nathalie hastig vor. „Außerdem wolltest du mir noch dein neues Trachtengewand vorführen, stimmt’s?“
Billy wischte sich ein letztes Mal mit dem Ärmel der Bluse über die Augen: „Das ist eine gute Idee. Ich werde dir das Trachtengewand so bald wie möglich zeigen. Es wird dir bestimmt auch gut gefallen.“

Am kommenden Wochenende fand das Oktoberfest statt. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergangen war. Inzwischen hielten sich Bobby und Hasso, gemeinsam mit den drei Kindern, wieder in Malente auf. Hasso ging seiner Arbeit pflichtbewusst nach. Bobby kümmerte sich um den Haushalt. Sie hatte nur wenig Zeit um ausgiebig mit Billy zu telephonieren. Und auch die Briefe wurden selten.

Zurück auf dem Gestüt hatte die nie um einen Ausweg verlegene Nathalie noch eine Idee: „Mach‘ doch heute mal früher Feierabend, Billy. Ethelbert ist ja nicht da und kommt er morgen wieder. Ich verrate keinem, ob du nun um 17 oder um 18 Uhr zum Arbeiten aufgehört hast. Die Pferde sagen bestimmt auch nichts weiter. Also kannst du dich mit einem ruhigen Gewissen zurückziehen.“

Billy schluckte. Dann schüttelte sie den Kopf: „Arbeit ist die beste Medizin, um sich von seinem Kummer abzulenken. Diesen Ratschlag hat mir Dalli einmal gegeben. Ich werde also noch die Boxen ausmisten und dann erst Feierabend machen. Zu zweit geht die Arbeit rascher von der Hand.“
Wohin Ethelbert an diesem Tag gefahren war, wussten Billy und Nathalie nicht. Sie stellten auch keine Fragen dazu. Ethelbert sprach nur wenig über sein Privatleben. Das respektierten die beiden Frauen.

Vor dem Einschlafen warf Billy noch einen Blick auf ihr neues Trachtengewand, welches ordentlich gebügelt an einem Kleiderhaken hing. Das blaue Muster des Kleides passte gut zu der grünen Schürze und den weißen, kurzen Ärmeln. Billy hatte auch noch neue, weiße Strümpfe und eine kleine schwarze Handtasche gekauft. Ein Trachtenhut, der auch irgendwie dazu gehörte – zumindest laut Ethelbert und Nathalie - war allerdings finanziell beim besten Willen nicht mehr drinnen gewesen.

„Vielleicht seh‘ ich ja Heinrich auf dem Oktoberfest wieder.“, grübelte Billy vor sich hin, obwohl sie doch längst schlafen sollte und von der Anstrengung des Tages sichtlich müde war. „Andererseits sind die Chancen gering, da wohl viele Menschen diese Veranstaltung besuchen werden. Zu dumm nur, dass ich weder Heinrichs Familiennamen, noch seine Telephonnummer und schon gar nicht seine Adresse kenne. Ob er sich wohl länger in München aufhält? Oder genau wie ich nur vorübergehend? Morgen frage ich Nathalie danach. Sie ist schließlich in München geboren und kennt sich gut aus.“
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Kapitel 113

Beitrag von Andrea1984 »

Laute Musik dröhnte aus den Lautsprechern. Ein Händler pries mit nicht minder leiser Stimme Popcorn und Zuckerwatte an. Fahnen flatterten im Spätsommerwind. In Menge griff Billy ängstlich nach Nathalies Hand: „Ich bin so froh, dass du hier bist. Alleine hätte ich mich bestimmt verlaufen.“
„So, da sind wir nun. Hier gibt es Weißwürste, Bier und Brezen zu einem besonders günstigen Preis.“

Billy nahm auf einer der harten, braunen Holzbänke Platz. Unauffällig tastete sie nach dem kleinen Beutel, welchen sie unter dem Kleid trug. Darin befanden sich ein paar Geldscheine und die Monatskarte für die S-Bahn. Gar nicht auszudenken, wenn das alles verloren ginge. Nathalie bewegte sich derweilen geschickt durch die Menge, um an der Theke Weißwurst und Brezen zu kaufen.

Die Musikrichtung wechselte. Anstatt der bayrischen Volksmusik erklang plötzlich moderne Musik, welche derzeit gerade in den Charts zu hören war. Billy hatte keine Wahl. Obwohl sie es nicht mochte, wurde sie von den anderen Leuten, die ebenfalls auf der Holzbank saßen, mitgerissen. Jemand hob das Mädchen hoch: „Komm‘ sing doch mit, auch wenn du den Text nicht kennst. Das tun hier alle so.“

Billy runzelte die Stirn. Wie sah denn der Mann aus, der sie gerade angesprochen hatte. Er trug einen hellbraunen Trachtenanzug und eine gleichfarbige Lederhose. Nun ja, das mochte noch angehen. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Teller auf dem zwei leere Weißwursthäute lagen. Der Mann hatte bereits die eine oder die andere Maß getrunken. Billy konnte den schlechten Atem des Mannes riechen.

Nathalie kam von der Theke zurück: „Ach sie mal einer an. Kaum lasse ich dich aus den Augen.“
Doch sie zwinkerte dabei. Es war nicht unüblich beim Oktoberfest auf den Bänken und Tischen zu stehen. Billy bewegte zwar ihre Hüften im Takt, nicht jedoch die Lippen, da sie den Text des Liedes nicht kannte. Abermals wandte sich der Mann ihr zu und grölte: „Das ist wohl deine Mami. Keine Angst, ich tu‘ dir schon nichts. Meine Frau sitzt direkt neben mir. Sie wirft immer ein Auge auf mich.“

Nathalie konterte: „Versuch‘ doch dich mit mir anzulegen. Ich bin 1.80 groß und wiege sichtlich mehr als du. Außerdem hab‘ ich den schwarzen Gürtel in Karate. Hau‘ einfach ab du kleines Würmchen.“
Der Mann blickte verwirrt von Nathalie zu Billy und wieder zurück. Und zog es vor, es lieber nicht auf einen Versuch ankommen zu lassen. Nathalie war tatsächlich groß und kräftig. „Ich geh ja schon.“

„Den sind wir los.“, freute sich Billy, atmete durch und umarmte Nathalie im nächsten Augenblick spontan. „Danke für deine Hilfe. Du hast was gut bei mir. So nun esse ich jetzt meine Wurst.“
„Er hat mich für deine Mutter gehalten. So ein unverschämter Kerl. Dabei kann ich doch schon rein altersmäßig gar nicht deine Mutter sein.“, erwiderte Nathalie halb stolz, halb empört. Sie wusste natürlich Bescheid darüber, dass Billys und Bobbys Mutter in jungen Jahren gestorben war.

Der Platz auf der Holzbank neben Billy blieb nicht lange leer. Immer wieder kamen neue Besucher hinzu. Nathalie mampfte gelassen ihre Weißwurst – nebenbei erwähnt mit der Haut – und kommentierte, was sie in ihrer Umgebung erkennen konnte: „Siehst du das. Der pinkelt da einfach an die Rückwand der Theke. Als ob es hier keine Toiletten geben würde. So ein dreckiges Schwein.“

Billy nahm einen Schluck von ihrer Limonade: „Du bist nicht zum ersten Mal hier, stimmt’s?“
Nathalie tunkte die Senfsoße mit dem Schwarzbrot auf: „So ist es. Ich komm‘ schon seit nun ja 10 Jahren immer wieder gerne her. Da fallen mir solche Typen, wie derjenige welche dich angebaggert hat und der Holzwandpinkler natürlich sofort auf. Lass‘ sie einfach in Ruhe, dann tun sie dir nichts. Wenn du versuchst, Kontra zu geben, wird alles meist nur noch schlimmer. Nicht jeder hat das Glück so wie du jemanden an seiner Seite zu haben, der tatsächlich den schwarzen Gürtel in Karate besitzt.“

„Ich soll mich wohl besser in Acht nehmen, was ich zu dir sage.“, erwiderte Billy grinsend und stellte das halbvolle Limonadenglas zurück auf den Tisch. Sie behandelte Nathalie mit großem Respekt.
„Papperlapapp.“, wischte diese sich den Schaum vom Mund und den Einwand vom Tisch. „Meinen Freunden tue ich doch nichts. Ich schau‘ nur gefährlich aus. Da bekommen die Männer Angst.“

Erst gegen 22 Uhr ließ die hektische Betriebsamkeit nach. Die Musik verstummte und die Läden wurden geschlossen. Nathalie besaß eine Wohnung im Zentrum, nicht allzu weit weg: „Du kannst gerne bei mir übernachten. Um diese Zeit ist das Fahren mit der S-Bahn nicht gut. Da treibt sich nämlich noch mehr Gesindel auf den Straßen herum als sonst. Letztes Jahr ist ein junges Mädchen nicht viel älter als du, im stockbetrunkenen Zustand, mit ihren Freunden über die Gleise spaziert.“
Billy ergänzte gleichzeitig in Gedanken: „Und nun besuchen die Eltern zu Allerheiligen das Grab.“
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Kapitel 114

Beitrag von Andrea1984 »

Während sich Billy und Nathalie am nächsten Tag abermals ins Getümmel auf dem Oktoberfest stürzten, ließen es Dalli und Alexander eher ruhig angehen. Am Vormittag kümmerten sie sich um die kleinen Mädchen. Dabei hatte Alexander eine Idee: „Was hältst du davon, wenn wir eine Partie Tennis spielen? Vor kurzem ist im Dorf ein neuer Tennisplatz eröffnet worden. Nur wenige wissen davon.“

Dalli stimmte zu. Einen Nachmittag lang konnte sie Henny und Chrissy unter Stines Obhut geben. „Ich zieh’ mich nur schnell um. Bitte warte solange hier draußen. In Jeans kann ich nicht Tennis spielen.“
Eine halbe Stunde später standen sich Dalli und Alexander auf dem Tennisplatz gegenüber. Alexander warf eine Münze: „Ich hab‘ den Aufschlag. Und werde dir gleich zeigen, was ich kann.“

„Alter Angeber.“, konterte Dalli. „Deine Aufschläge retourniere ich doch buchstäblich mit links.“
So einfach war das allerdings nicht. Alexander schlug den Ball beim ersten Versuch ins Netz und beim zweiten weit hinter die Grundlinie ins aus. Dalli wechselte die Seite. Alexander wurde rot im Gesicht. Nicht vor Wut, sondern weil ihm vor lauter Anstrengung der Schweiß über die Stirn zu rinnen begann.

„Das ist unfair.“, rief Alexander, nach dem er bereits zum dritten Mal den Ball nicht getroffen hatte.
„Was meinst du?“, wollte Dalli wissen. Und schlenderte zum Netz, während Alexander den Ball holte.
Die Sonne stach vom Himmel. Vielleicht wurde Alexander während des Aufschlags davon so geblendet, dass er den Ball beim besten Willen nicht treffen konnte. Wenn nicht, was war dann?

Alexander bückte sich, nahm den Ball. Und gab ihn Dalli den Ball über das Netz: „Dein kurzer Rock lenkt mich total ab. Ich kann mich nicht auf das Spielen konzentrieren. Hier probier‘ du mal, ob du den Aufschlag besser hinbekommst. So einfach ist das nämlich nicht, wie es im Fernsehen aussieht.“
Beide Spieler nahmen ihre Positionen an der Grundlinie ein. Dalli fackelte nicht lange und schlug ein Ass. Alexander hatte keine Möglichkeit den Ball zu erlaufen. Dallis Aufschlag war einfach zu gut.

Der Platzwart hatte sich erboten, den Schiedsrichter zu spielen. Und zählte brav die Punkte mit. Einige Zuschauer saßen auf der Terrasse, welche an den Hartplatz angrenzte. Alles war ruhig und friedlich.
Nach dem ersten Satz stand es 6:1 für Dalli. Ein Aufschlagspiel hatte Alexander mit Müh und Not durchgebracht: „Lass‘ uns eine kurze Pause machen. Ich hab‘ Durst. Wir sind ja nicht in Wimbledon.“

Dalli und Alexander nahmen nebeneinander auf einer der harten Holzbänke Platz. Und atmeten tief durch. Alexander zog eine Flasche aus der Tasche: „Hier ist das Mineralwasser. Es löscht den Durst oft besser als jedes kohlensäurehaltige Getränk. Und als Stärkung gibt es dazu einen Apfel.“
Dalli wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn: „Ich bin gut in Form, stimmt’s?“

Nach eine kurzen Verschnaufpause ging es weiter. Alexander hatte keine Chance. Was er auch versuchte, es misslang. Zu hohe Flugbälle gingen weit ins Aus. Und flache Bälle landeten im Netz. Gerade stand das Spiel bei 5:2 und 40:30 – aus Dallis Sicht – als plötzlich eine vertraute Stimme rief: „Alexander. Was machst du hier? Ich dachte du bist um diese Zeit auf dem Immenhof im Büro?“

Alexander hielt sich die Hand vor die Augen. Doch es war zu spät. Sigrid schlenderte quer über den Platz, genau auf ihn zu. Unter der weißen, hautengen Bluse zeichneten sich Muskeln ab. Sigrid kramte einen Ball aus der Tasche ihres roten Rockes, als ob sie nicht gesehen hätte, dass Alexander und Dalli bereits genug Bälle hatten: „Hier, vielleicht kannst du ihn ja brauchen. Und er hilft dir.“

Alexander schüttelte den Kopf: „Bitte sei so nett und geh vom Spielfeld. Du siehst doch, dass ich gerade gegen meine Frau spiele. Und sie ist dabei mich zu besiegen. Ich muss mich konzentrieren.“
Sigrid gab sich nicht so leicht geschlagen: „Schade, dass mein Vater heute nicht spielen kann.“
Alexander wedelte mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verjagen. Jetzt kam der Aufschlag.

Diesmal versuchte Alexander alles zu geben. Und hatte diesmal sogar ein wenig Glück. Der Ball segelte an Sigrids Kopf vorbei ins Aus. Auf der anderen Seite des Platzes fluchte Dalli leise vor sich hin. Nicht weil sie den Ball verschlagen hatte und es nun „Einstand“ bedeutete. Sondern weil Sigrid aufgetaucht war. Dalli kam sich den grauen Shorts und der grünen Bluse irgendwie unbedeutend vor.

Alexander ging zum Platzwart und beschwerte sich. Sigrid verzog das Gesicht. Aber ihre Proteste bewirkten nichts. Der Platzwart kletterte wieder auf den Schiedsrichterstuhl: „Es geht weiter.“
Sigrid setzte sich auf die Holzbank, genau neben Alexanders Tasche und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an, obwohl sich das ja nicht gehörte. Dalli schlug Alexander ein Ass um die Ohren.
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Kapitel 115

Beitrag von Andrea1984 »

Zumindest glaubte sie es. Im nächsten Augenblick rief der Platzwart, der alles beobachtete: „Aus!“
Dalli hielt sich die Hand vor die Augen: „Bist du dir da ganz sicher? Schau‘ nochmal genauer hin.“
„Ich steig‘ doch nicht extra deswegen noch einmal von dem Schiedsrichterstuhl herunter.“, erwiderte der Platzwart streng: „Der Ball ist ganz klar im Aus. Nütze den zweiten Aufschlag einfach besser.“

Dalli unterbrach wütend die Partie: „Ich schau‘ mir den Ball jetzt von der Nähe an, das will ich wissen.“
Alexander merkte, dass seine Gattin aufgebracht war und versuchte, ihr beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen: „Du siehst doch, dass der Ball im Aus ist. Warum regst du dich so darüber auf? Lass uns weiterspielen. Die Partie ist noch lange nicht zu Ende. Stell‘ dich wieder an die Grundlinie.“

Aber Dalli war nicht bereit nachzugeben: „Siehst du das? Der Ball liegt gerade noch auf der Linie.“
Schnaufend kletterte der Platzwart ungern vom Schiedsrichterstuhl herunter. Nur ein Ball lag auf dem Hartplatz. Und eindeutig im Aus. Als ob es da noch einen Zweifel an diesem Stand geben würde: „Es geht weiter. Zweiter Aufschlag für dich. Beeil dich bitte. Dein Mann und du ihr habt nicht ewig Zeit.“

Dalli kehrte nur ungern an die Grundlinie zurück. Und machte sich für den zweiten Aufschlag bereit. Doch dieser ging klar ins Netz. „5:3“, verkündete der Platzwart. Sigrid trat die erste Zigarette aus.
„Mach‘ sie fertig, Alexander. Du kannst deine Frau besiegen.“, rief sie quer über den Platz. „Nütz‘ ihre Schwäche aus. Jetzt ist deine Frau verunsichert. Diese Runde geht an dich. Mach‘ was draus.“

Alexander tippte sich auf die Ohren. Er tat so, als ob er kein Wort verstanden hätte, was Sigrid meinte. Dalli wurde nur noch wütender. Sie durfte sich jetzt keine Schwäche mehr erlauben. Dunkle Wolken zogen sich zusammen. Noch war es trocken. Aber bald würde es zu regnen beginnen. Das war allerdings kein Problem. Neben dem Hartplatz befand sich eine große, überdachte Halle.

Alexander und Dalli wechselten die Seiten. Sigrid zwinkerte Alexander zu, was soviel bedeuten sollte: „Du schaffst das schon. Ich steh‘ auf deiner Seite. Dein Aufschlag ist gut. Und dein Return ebenso.“
Im nächsten Augenblick krachte schon ein Donnerschlag nieder. Aber niemand achtete darauf. Der Platzwart konzentrierte sich auf das Beobachte und Alexander auf den wichtigen ersten Aufschlag.

Er spielte Dalli genau auf den Schläger und wollte ihr eine Chance geben. Aber diese Taktik ging nicht auf: „15:0“, rief der Platzwart etwas lauter, um das Krachen des Donners zu übertönen. Sigrid zündete sich eine zweite Zigarette an. Das Spiel versprach ja doch richtig spannend zu werden. Alexander brachte dieses Aufschlagspiel zu Null durch. Nun stand es „5:4.“. Wer hätte vorhin damit gerechnet.

Dalli kämpfte verbissen um jeden Punkt. Und musste sich insgeheim eingestehen, dass sie Alexander unterschätzt hatte. Er spielte wirklich gut. Und was noch wichtiger war: Er ließ sich weder durch Sigrids Flirtversuche noch durch das Donnergrollen aus der Ruhe bringen. Sollte das Spiel auf dem Hartplatz unterbrochen werden, ging es in der Halle weiter. Der Platzwart kümmerte sich darum.

Und pfiff nach einer Viertelstunde das Spiel ab. Leichter Regen hätte nichts ausgemacht, doch der Platzregen war einfach zu stark: „Pack eure Sachen zusammen. Wir gehen in die Halle hinüber.“
Dalli verstaute die Mineralwasserflasche und den Schläger in der Tasche. Alexander war schon vorausgeeilt. Ein dringendes menschliches Bedürfnis brachte ihn dazu das Tempo zu beschleunigen.

In der Halle wartete schon der Platzwart, der es sich auf einem Stuhl bequem gemacht hatte: „Wo ist Alexander? Ohne ihn kannst du nicht weiterspielen. Es wäre schade, wenn ihr jetzt aufhören würdet.“
Dalli hängte die Tasche an einen Haken: „Ich weiß es nicht, wo er so lange bleibt. Es ist mir egal.“
„Wenn ihr persönliche Probleme habt, macht das bitte unter euch aus.“, ermahnte der Platzwart.

Alexander kam zurück. Das Spiel wurde wieder aufgenommen, nachdem der Platzwart den Stand verkündete hatte: „5:4, 40:15“ – aus der Sicht von Dalli. In der Halle gab es gottseidank keinen Platz für Zuschauer. So musste Sigrid, die sich hinter Dalli in die Halle geschlichen hatte, am Fenster stehen und die Partie durch eine Glasscheibe beobachten. Das war allerdings nichts ungewöhnliches.

Bei nächsten Seitenwechsel bat Alexander: „Lass‘ uns über alles reden. Warum bist du so wütend?“
Dalli flocht sich ihre blonden Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen. Und nahm dann einen Schluck aus der Mineralwasserflasche: „Ich wüsste nicht, worüber wir im Moment zu reden hätten.“
Inzwischen war der Ausgleich in Punkten erreicht worden. „5:5“. Alexander hatte das Break geschafft und Dalli den Aufschlag abgenommen. Vermutlich war jetzt genau der falscheste Zeitpunkt dafür.
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Kapitel 116

Beitrag von Andrea1984 »

„1:6, 7:5, 6:2“, verkündete der Platzwart nach drei Stunden – oder etwas mehr – das Ergebnis zugunsten Alexanders. Er hatte den zweiten Satz im Ti-Break gewonnen und im dritten nur zweimal den eigenen Aufschlag abgegeben. Sigrid, die noch immer hinter der Glasscheibe stand, klatschte erfreut in die Hände. Und ballte eine Hand zur Faust. Das sollte heißen: „Ich freu‘ mich für dich.“

Dalli hätte zugerne noch eine Revanche gespielt, doch es warteten schon andere Leute draußen, welche die Halle um diese Uhrzeit reserviert hatten. Nach wie vor regnete es in Strömen, so dass ein Bespielen des Platzes nicht möglich war. Alexander beglich die Rechnung für die Platz – und die Hallenmiete, ohne dabei auf Dalli, welche gerade ihren Tennisschläge in der Tasche verstaute, zu achten. Sigrid beobachtete das Gespräch zwischen Alexander und dem Platzwart interessiert.

Und meinte dann: „Gegen dich versuch‘ ich das Antreten erst gar nicht. Du bist zu stark für mich.“
Alexander grinste verlegen: „Ich hatte heute einen guten Tag. Das ist alles. Vielleicht können wir tatsächlich einmal miteinander spielen. Oder gegeneinander im Doppel. Wir brauchen allerdings noch einen vierten Mann dazu. Wie wär’s mit deinem Vater? Oder einem Kollegen aus dem Reisebüro?“

Sigrid schüttelte den Kopf: „Das ist keine gute Idee. Mein Vater hat sich vorgestern das Kreuzband im rechten Knie gerissen. Es wird noch länger dauern, bis er sich dann wieder sportlich betätigen kann.“
Alexander hielt Sigrid die Türe auf. Dalli kochte vor Wut, doch sie ließ sich nach außen hin nichts anmerken. Und dachte: „Ein Glück, dass ich den Autoschlüssel bei mir habe. Soll Alexander doch sehen, wie er bei diesem Wetter zurück auf den Immenhof kommt. Das ist mir sowas von egal.“

Alexander setzte sich noch kurz auf die überdachte Terrasse und bestellte sich etwas zu Trinken. Dalli eilte grußlos an ihm vorüber. Alexander blickte ihr empört nach, doch sie machte sich scheinbar nichts daraus. Sigrid nahm unaufgefordert neben ihm Platz und bat den Ober, ihre Bestellung aufzunehmen. Alexander wartete nicht, bis das gewünschte Getränk kam, sprang auf und lief hinüber zu Dalli.

„Liebling, können wir nicht ....“, begann er zögernd. Aber Dalli, die bereits am Steuer saß, kurbelte das Fenster herunter und unterbrach ihn mit scharfen Worten: „Das ist zufälligerweise mein Auto! Also entscheide ich, wer mit mir fahren darf. Bleib‘ ruhig noch ein wenig auf der Terrasse sitzen. Du hast Sigrid doch so lange nicht mehr gesehen. Ihr werdet euch bestimmt gut unterhalten, auch ohne mich.“

„Ja aber ....“, fing Alexander an. Er hoffte, in Ruhe mit Dalli reden zu können, aber das ging nicht.
Nun griff sie zu der einzige Waffe, die sie besaß: Dem Immenhof: „Ich kann jederzeit die Papiere ändern lassen! Du weißt, was das bedeutet! Dann gehört der Immenhof wieder nur mir alleine! Und du wirst dann nur noch der Pächter sein, für den jederzeit eine Kündigung möglich ist! Vergiss das nicht!“

Das nächste, was Alexander erkennen konnte, war der Schlot, welcher aus dem Auspuff des gelben Cabrios kam. Alexander hustete. Und kehrte dann wieder zurück an den Tisch. Inzwischen waren die Getränke für Sigrid und ihn eingetroffen. Alexander blickte finster drein. Er war aus verschiedenen Gründen wütend: Zum einen auf Sigrid, die unverfroren hier aufgekreuzt war, zum anderen auf Dalli, die sich einfach unmöglich gegenüber Sigrid benahm und zum letzten auf sich selbst. Warum konnte er Sigrid nicht einfach wegschicken? Sie war ihm gleichgültig, aber das hatte sie nicht verstanden.

„Lass‘ uns anstoßen.“, schlug Sigrid scheinbar unbekümmert vor. Sie hatte schon das Glas erhoben, aber Alexander schüttelte den Kopf: „Ich wüsste ehrlich nicht, worauf wir jetzt anstoßen sollen.“
Der Ober kam an den Tisch zurück. Alexander kippte hastig sein Getränk hinunter, beglich die Rechnung nur für sich und machte sich dann zu Fuß auf den Weg zum Immenhof. Nun hatte er es unwillkürlich geschafft, innerhalb weniger Minuten gleich zwei Frauen vor den Kopf zu stoßen.

„Das ist mein persönlicher Rekord.“, dachte Alexander sarkastisch, während ihm der Regen durch das T-Shirt auf den Körper rann. „Vermutlich hat Sigrid tatsächlich einen wichtigen Grund zum Anstoßen gehabt. Das 10jährige Bestehen des Reisebüros oder was weiß ich. Aber ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Wie kann eine Frau nur so verbohrt sein? Doch Dalli ist genauso stur, wirklich.“

Alexander ahnte nicht, dass ihm auf dem Immenhof bereits die nächsten Probleme buchstäblich vor der Türe standen. Der Weg war zu Fuß weiter, als gedacht. Alexander ging langsam. Er hatte ja keine Eile. Doch wenn er gewusst hätte, was an diesem Tag noch alles geschehen würde, so hätte er seine Schritte beschleunigt und alles getan, um die Probleme zu lösen. Inzwischen war das Gewitter vorbei und es regnete nur. Alexander seufzte. So rasch würde er sich mit Dalli bestimmt nicht vertragen.
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Kapitel 117

Beitrag von Andrea1984 »

Zur gleichen Zeit auf dem Immenhof hielt sich Ole im Stall bei den Pferden auf. In den Boxen, wo die Stuten standen war alles in Ordnung. Aber Scheitan schlug mit den Hufen gegen die Boxenwand, als Ole sich ihm näherte. Was war heute mit dem Hengst los? Spürte er das Wetter? Oder ging es ihm gesundheitlich nicht gut? Ole versuchte auf Scheitan einzureden, aber das half im Augenblick nicht.

Mit quietschenden Bremsen fuhr ein Auto in die Einfahrt. Ole lief nach draußen. Tatsächlich es war Dalli, oder vielmehr wie er sie anreden durfte „Boss“. Ole wusste nichts von dem Streit zwischen Dalli und Alexander. Und verhielt sich daher wie immer: „Kann ich Sie mal kurz sprechen, Boss?“
Dalli reagierte erst darauf, als Ole den Satz wiederholte. Und erwiderte ungewöhnlich barsch: „Ich hab‘ jetzt keine Zeit für dich, Ole. Und möchte mit Scheitan ausreiten. Ist er im Stall oder auf der Weide?“

„Genau darum geht es ja.“, ließ Ole nicht locker und wischte sich die schmutzigen Hände an seinem Overall ab. „Sie sollten mal nach Scheitan sehen. Er trommelt mit den Hufen gegen die Boxenwand.“
Dalli ließ sich nur ungern zum Nachschauen überreden. Scheitan wieherte laut. Was war an diesem Tag nur los mit ihm? Mit den Stuten konnte es nichts zu tun haben, die waren entweder trächtig oder zu alt/zu jung um Fohlen bekommen zu können. Und das Gewitter hatte sich inzwischen verzogen.

„Bleib‘ du solange bei ihm. Ich geh‘ rüber ins Haus und rufe Dr. Tidemann an.“, bestimmte Dalli knapp. Ole blieb nichts anderes übrig, als dem Befehl zu gehorchen. Scheitan ging unruhig im Kreis auf und ab. Dabei blickte er sich immer wieder nach seinem Bauch um. Es würde doch nichts Schlimmes sein. Ole gab die soeben entdeckte Beobachtung an Dalli weiter: „Ich kümmere mich schon darum, Ole.“

Dr. Tidemann war jedoch aus unbekannter Ursache nicht zu erreichen. Wütend knallte Dalli den Hörer auf die Gabel. Heute ging aber auch alles schief, was nur schief gehen konnte. Kurzentschlossen griff Dalli abermals zum Telephon. Und wählte eine andere Nummer, nämlich die der einstigen Liegenschaftsverwaltung in Hamburg. Vielleicht war es möglich die ehemals gekündigte Geschäftsbeziehung wieder aufleben zu lassen. Dort hatte Dalli ebenfalls kein Glück. Es war nur der Anrufbeantworter zu hören. Dalli hasste es mit einer Maschine zu sprechen. Und legte den Hörer auf.

Ole nahm einen Führstrick und führte Scheitan auf den Hof. Mehr konnte im Augenblick für den kranken Hengst nicht getan werden. Es gab Medikamente, das wusste Dalli von früher her, aber nur Dr. Tidemann konnte genau feststellen, welche in so einem Fall nützlich waren und welche eher schädlich. Scheitan hatte eine Kolik. Das war eine der schlimmsten Pferdekrankheiten, die es gab.

Während Ole beruhigend auf Scheitan einredete: „Gib‘ nicht auf Junge, mach‘ bloß nicht schlapp.“, schlug Dalli wütend mit der Faust auf die Stalltüre. Und verzog im nächsten Augenblick, ob vor Schmerzen oder vor Enttäuschung, das Gesicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Und niemand, außer Ole, war da, der ihr im Augenblick helfen konnte. Stine hatte Henny und Chrissy zu Bett gebracht. Und kümmerte sich im Moment vermutlich um die Zarin, die nichts alleine tun konnte.

Dalli ging ins Haus zurück, um ihre Hand, welche langsam anzuschwellen begann, unter kaltem Wasser zu kühlen. Es war nichts ernstes, lediglich ein blauer Fleck. Der würde schon vergehen. Leise huschte Dalli die Treppe nach oben, um nach ihren Töchtern zu sehen. Henny hatte sich fest in die Bettdecke eingewickelt, den Teddybären im Arm. Chrissy strampelte sich bloß und musste wieder zugedeckt werden. Im Nebenzimmer schlummerte die Zarin tief und fest. Dalli atmete leise auf.

Wenigstens hier war alles in Ordnung. Stine hatte sich bereits in ihre Kammer zurückgezogen. Und wollte vermutlich nicht mehr gestört worden. Vor lauter Aufregung hatte Dalli die Zeit übersehen. Die Turmuhr schlug zehn. Erschrocken fuhr Dalli, auf dem Weg in den Stall, zusammen. Ole führte Scheitan immer noch hinter sich her. Langsam besserte sich der Zustand des Hengstes.

„Geh‘ schlafen, Ole.“, befahl Dalli und gähnte kurz. „Du musst morgen wieder früh aufstehen.“
„Ach, das macht mir nichts aus, Boss. Scheitans Gesundheit ist wichtiger als mein Schlaf.“
Dalli wollte sich an diesem Tag nicht auch noch mit Ole streiten. Und musste sich eingestehen, dass ihm das Wohl der Tiere tatsächlich am Herzen lag. „Wie du willst. Ich geh‘ jetzt schlafen. Gute Nacht, Ole. Sollte sich Scheitans Zustand verschlimmern, kannst du mich jederzeit wecken, das weißt du.“

„Gute Nacht, Boss.“, erwiderte Ole und drehte weiter seine Runden mit dem Hengst. Erst als Dalli im Haus verschwunden war, setzte der Knecht noch in Gedanken hinzu: „Als ob ich die Seejungfrau, in der Nacht aus dem Schlaf reißen würde. So gemein bin ich nicht. Und wo steckt eigentlich der Chef?“
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Kapitel 118

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Ole konnte nicht wissen, dass viele Kilometer entfernt von ihm sich noch jemand eine ähnliche Frage stellte. Es war Dick, welche sich um Ralf sorgte, der täglich Überstunden machte, obwohl er doch immer behauptete, dass es ihm in der Firma, wo er derzeit beschäftigt war, nicht gut gefalle. Inzwischen war der Sommer vergangen. Der Herbst zog ins Land. Die Kinder gingen zur Schule.

Nur Dick saß zu Hause und kümmerte sich um alles. Sie hatte zwar seinerzeit einen Beruf erlernt, diesen jedoch nicht ausgeübt. Zum einen, weil Ralf es so wollte und zum anderen, weil die Kinder ja bereits relativ bald nach der Eheschließung geboren worden waren. Dick fand somit keine Möglichkeit in ihren Beruf zurückzukehren. Und war daher finanziell ganz und gar von Ralfs Verdienst abhängig.

Der Wind heulte durch die Straßen. An diesem Morgen hatte sich sogar Rafe dazu bequemt, seine dicke warme Jacke anzuziehen und vorsichtshalber einen Schal, eine Mütze und ein Paar Handschuhe mitzunehmen. Man konnte ja nie wissen. Dabei schien noch die Sonne, aber im Laufe des Vormittags schlug das Wetter um. Feste Regentropfen klatschten an die Fensterscheiben.

Dick wollte gerade das benutzte Geschirr abräumen, als sie plötzlich vor Brechreiz gepackt wurde. Hastig lief Dick zur Toilette und erreichte diese buchstäblich im letzten Augenblick. Nach dem alles vorüber war blickte die Hausfrau in den Spiegel: „Was ist nur aus mir geworden? Ich schaue schrecklich aus. Die strähnigen, fetten Haare. Das kreidebleiche Gesicht. Und dann die Müdigkeit.“

Dick fuhr mit der Hausarbeit fort, als ob nichts gewesen wäre. Aber am nächsten Tag ging das Erbrechen wieder los. Und desgleichen am übernächsten. Dick hatte einen Verdacht: „Nein, alles nur das nicht. Bitte, bitte nicht. Wenn es das ist, was ich vermute, dann ist die Sache kein Spaß mehr.“
Dick ließ sich in den Wohnzimmersessel fallen und massierte sich die schmerzenden Schläfen.

„Was soll ich nur tun?“, grübelte sie vor sich hin. „Vielleicht irre ich mich ja auch. Und es nicht so.“
Die Standuhr tickte laut. Auf dem Tisch stand noch das benutzte Geschirr vom Frühstück. Dick richtete sich auf. Plötzlich wurde ihr schwindlig. Irgendwie schien sich der Boden unter ihren Füßen zu bewegen. Mühsam rappelte sich Dick wieder hoch. Es lag nicht am Wetter, das ihr Kreislauf versagte.

„Ich gehe jetzt erstmal in die Apotheke und kaufe mir etwas, damit der Brechreiz aufhört.“, nahm sich Dick fest vor. „Vermutlich ist es nichts weiter als eine Magenverstimmung. Ja, ganz bestimmt.“
An diesem Tag war die Apotheke wegen „Betriebsferien“ geschlossen. So blieb Dick nichts anderes übrig, als in das städtische Klinikum zu gehen und sich dort einmal gründlich untersuchen zu lassen.

Niemand wusste Bescheid darüber, wo sich Dick aufhielt. Die Kinder hatten bis zum Nachmittag Schule und kamen erst gegen 17 Uhr nach Hause. Ralf war vermutlich im Büro, wo auch sonst. Dick biss die Zähne zusammen, als die Spritze ihre Haut berührte. Das Blutabnehmen war schmerzhaft.
„Bald ist alles vorüber.“, versuchte die Ärztin Dick zu beruhigen. „Sie haben Glück. Heute ist wenig los. Und Sie erfahren so rasch wie möglich das Ergebnis der Untersuchung. Sonst dauert das länger.“

Als Dick versuchte von der Behandlungsliege aufzustehen, bereitete sich abermals ein Schwindelgefühl aus. Das kam bestimmt nicht nur vom Blutabnehmen. Und auch die Ärztin hatte einen bestimmten Verdacht. Sie hatte schon oft Frauen in ähnlichen Situationen erlebt.
„Möchten Sie etwas trinken?“, bot die Ärztin steif und höflich an. „Ein Glas Wasser vielleicht.“

Dick schüttelte ihre braunen Locken, bei denen sich allmählich die ersten grauen Strähnen zeigten: „Nein danke. Ich habe Angst, dass ich im nächsten Augenblick womöglich wieder erbrechen muss.“
Die Ärztin kümmerte sich derweilen um die nächste Patientin, während Dick wartend auf einem Stuhl saß. Es war ein gewöhnlicher Werktag, an dem nur wenige Leute auf gerade diese Station kamen.

Gerade als das Ergebnis der Blutabnahme aus dem Labor eingetroffen war, klingelte das Telephon. Die Ärztin nahm den Hörer ab und nannte ihren Namen. Schon im nächsten Augenblick musste sie zu Papier und Stift greifen. Was immer der Anrufer oder die Anruferin wollte, es war offenbar wichtig.
Dick presste die Hand auf den Magen. Hoffentlich ging das Erbrechen nicht schon wieder los.

Im Wartezimmer befanden sich keine Patienten mehr. Nur ein Blumentopf stand einsam in einer Ecke und ließ die Blätter herunterhängen. Dick fühlte sich ebenso verlassen, aber sie hatte sich ihrer Familie bisher noch nicht anvertraut. Und zwar aus dem Grund weil sowohl Ralf als auch die Kinder stets genug eigene Probleme, jedoch wenn es darauf ankam kein offenes Ohr für Dick hatten.
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Andrea1984
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Kapitel 119

Beitrag von Andrea1984 »

Die Ärztin verkündete das Ergebnis der Blutabnahme. Dick nahm die Nachricht scheinbar gelassen auf und versicherte auf Nachfrage, dass alles in Ordnung sei. Aber dem war nicht so. Auf dem Weg vom städtischen Klinikum bis nach Hause zeigte Dick keine Emotionen. Im Fahrstuhl musste sie heftig dagegen ankämpfen. Und kaum dass Dick in der Wohnung angelangt war, brach sie in Tränen aus.

Dick weinte so heftig, wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Wer oder was hatte ihr den schon großen Kummer bereitet? Der Tod ihrer Eltern? Wohl kaum. Dick war beim Tod ihrer Mutter erst 3 ½ Jahre alt gewesen und hatte, wenn überhaupt, nur noch schwache Erinnerungen. Auch der Tod ihres Vaters zwei Jahre später, berührte Dick nur mäßig. Der Mann war ihr immer ein Fremder geblieben.

„Warum ausgerechnet jetzt?“; schluchzte Dick nur noch lauter. Es kümmerte sie wenig, dass sich das Zeigen von Emotionen für eine erwachsene Frau nicht schickte. Außerdem waren die Wände der Wohnung so dick, dass niemand in den Nachbarwohnungen das Schluchzen hören konnte. „Warum musste das gerade mir passieren. Hätte ich doch besser aufgepasst, ja genau damals im August.“

Dick hatte keine Freundinnen in Lübeck. Und kannte auch niemanden, der ihr helfen konnte. Dick putzte sich die Nase: „Ich werde versuchen, Dalli zu erreichen. Vielleicht ist sie für mich da.“
Aber schon im nächsten Augenblick verwarf Dick ihre Idee wieder: „Dalli hat bestimmt viel zu tun. Gerade heute um diese Uhrzeit. Es ist kurz nach 12. Wir haben damals immer pünktlich um 12 gegessen. Da ist Oma Jantzen sehr streng mit uns gewesen. Ich möchte Dalli jetzt nicht stören.“

Bis zum Abend hatte sich Dick wieder gefasst. Und verhielt sich so, als ob nichts gewesen wäre. Eine Zeitlang ging das gut. Ralf und die Kinder stellten keine neugierigen Fragen. Zum ersten Mal kam Dick die Erkenntnis, das Dinge, die auf den ersten Blick nachteilig wirkten, sich auf den zweiten als vorteilig erwiesen. Manchmal brachte es Dick sogar fertig ein Lächeln aufzusetzen, wenn ihr Anna davon berichtete, dass sie eine gute Note in einem Fach geschrieben habe, dass ihr so gar nicht liege.

Anfang November fiel der erste Schnee. Die Kinder freuten sich sehr darüber. Ralf hingegen weniger. Er musste jeden Morgen das Eis von der Windschutzscheibe des Autos abkratzen. Das nahm natürlich eine gewisse Zeit in Anspruch, die ihm auf dem Weg zur Arbeit fehlte. Einzig Dick beklagte sich nicht über das Wetter. Ganz im Gegenteil. Ihr konnte es sogar nur recht sein, dass sie statt der engen Jacke, den weiten Mantel tragen musste. Dick hüllte sich, buchstäblich, in hartes Schweigen.

Zwei Wochen später war die Hausfrau auf dem Weg zum Supermarkt. Auf der Einkaufsliste standen nützliche Güter wie Milch, Eier, Mehl etc. aber auch die Luxusgüter wie Schokolade gingen zur Neige. Daher blieb Dick nichts anderes übrig, als wieder einmal einkaufen zu gehen. Vorhin hatte der Sprecher im Radio gemeldet, dass es heute besonders glatt sei. Und man daher aufpassen müsse.

Dick nahm einen braunen Henkelkorb zur Hand, legte die Einkaufsliste und das Portmonaie hinein, verließ die Wohnung und sperrte die Wohnungstüre sorgfältig zu. Man konnte ja nie wissen.
Im Stiegenhaus ging alles gut. Mit einem leisen Seufzer stieß Dick die Haustüre auf. Wie kam die Eisfläche auf den Weg? Noch ehe Dick es richtig begreifen konnte, riss ihr der Schwung die Füße weg. Im nächsten Augenblick lag die Hausfrau auf dem eisglatten Weg. Was war nun geschehen?

Dick verzog das Gesicht. Wie aus dem Nichts kam eine Schmerzwelle daher. Dick presste die Hände auf den Magen. Und spürte, dass sich ihr Körper zusammenkrampfte: „Hilfe, so helft mir doch.“
Aus dem Stiegenhaus kam die junge Nachbarin gelaufen und sah, in welcher schwierigen Lage sich Dick befand: „Du bleiben hier liegen. Ich rufen gleich den Doktor an. Der werden dir schon helfen.“

Gesagt getan. Wenige Augenblicke später traf zwar kein Doktor, sondern eine Ärztin ein. Dicks Augen füllten sich mit Tränen: „Was ist jetzt mit mir geschehen? Ich habe überall Schmerzen.“
Vorsichtig wurde Dick auf eine Bahre gelegt und in das Rettungsauto gehoben. Die Ärztin legte ein Infusion an: „Sollen wir jemanden verständigen, Frau Schüller? Was ist mit Ihrem Mann?“

Dick antwortete nicht auf diese Frage. Wo kam das Blut auf dem Laken so plötzlich her? Dick brauchte einen Moment um zu begreifen: „Nein, bitte nicht. Das hab‘ ich wirklich nicht gewollt.“
„Beruhigen Sie sich Frau Schüller.“, meinte die Ärztin und strich Dick das schweißnasse Haar aus der Stirn. „Es wird alles wieder gut. Machen Sie sich keine Sorgen. Bei uns sind Sie in besten Händen.“
Über Funk meldete sich ein Kollege. Die Ärztin antwortete etwas von „Abortus.“ Dick verstand nur allzugut, was in diesem Fall gemeint war. Und vergrub weinend ihr Gesicht in dem weißen Kissen.
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Kapitel 120

Beitrag von Andrea1984 »

Ralf saß in seinem Büro und stützte verzweifelt den Kopf auf die Hände. Der Monat war noch nicht um. Es kamen immer weniger Aufträge herein. Wie sollte Ralf mit diesem Verdienst seine Familie ernähren können. Nur wenige Möglichkeiten kamen in Frage: Entweder stieg Dick wieder ins Berufsleben ein, was allerdings nach der langen Pause ziemlich schwierig werden könnte. Oder eines der Kinder sollte bzw. musste anstatt das Abitur zu machen, sich sein Brot frühzeitig selbst verdienen.

Ständig klingelte draußen im Großraumbüro das Telephon. Ralf war froh, einen Raum für sich zu haben. Bei dem Lärm der ständig an seine Ohren drang, war ein ungestörtes Arbeiten unmöglich.
„Wäre ich doch bloß in Kanada geblieben.“, murmelte Ralf halblaut vor sich hin. „Dort hab‘ ich eine wichtige Position in der Firma gehabt. Wer bin ich denn schon hier. Jemand, der nichts kann und nichts weiß. Die wirklich guten Aufträge gehen seit jeher an die erfahreneren Kollegen über.“

Das Piepsen des Faxgeräts riss Ralf aus seinen Gedanken. Gut, dass jeder Mitarbeiter in dieser Firma einen eigenen Faxanschluss hatte. So wusste niemand, woran der Kollege arbeitete oder wer wem welchen Auftrag vor der Nase weggeschnappt hatte. Ralf überflog das Fax. Es stand nichts besonderes drinnen. Ralf nahm einen Locher zur Hand, drückte zwei Löcher in das Papier und ordnete es dann in eine Mappe ein. Die mitgeschickte Kopie ließ er in den Reißwolf wandern.

Plötzlich wurde die Türe geöffnet. Eine der Sekretärinnen streckte den Kopf herein: „Herr Schüller. Telephon für Sie. Es ist über den Hauptanschluss im Büro des Chefs hereingekommen. Offenbar weiß derjenige am anderen Ende der Leitung nicht, dass Sie über einen Nebenanschluss verfügen.“
„Stellen Sie das Gespräch durch zu mir.“, bat Ralf. „Ich hab‘ viel zu tun und kann jetzt nicht weg.“

„Sehr wohl, Herr Schüller. Einen Moment bitte.“. Die Sekretärin verschwand im Büro des Chefs. Schon eine Minute später klingelte das Telephon auf Ralfs Schreibtisch. Der Graphiker nahm den Hörer ab. Eine verzweifelt klingende Stimme bat ihn, dass er ins städtische Klinikum kommen möge. „Es geht um Ihre Frau, deren Zustand kritisch ist. Kommen Sie sofort zu ihr.“ Peng, der Anrufer hatte aufgelegt.

Ralf zögerte nicht lange. Und sprach sogleich mit seinem Chef darüber, der ihm den Nachmittag freigab: „Es geht in Ordnung, Herr Schüller. Sie arbeiten viel zu viel. Ruhen Sie sich einmal aus.“
Ralf verschloss das Büro und hängt ein Schild vor die Türe „Bin nicht erreichbar“. Dann eilte er nach draußen. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen. Mühsam kratzte Ralf das Eis von der Windschutzscheibe. Und startete dann den Motor an. Auch das nahm eine gewisse Zeit in Anspruch.

Immer wieder musste Ralf an den roten Ampeln anhalten. Und auch einen Umweg in Kauf nehmen. Die Hauptverkehrsstraße war wegen wichtiger Kanalarbeiten kurzfristig gesperrt worden. Ralf wendete das Auto und lenkte es behutsam durch einige Nebenstraßen. Kurz vor dem städtischen Klinikum drosselte Ralf seine Geschwindigkeit, weil einige Kinder auf dem Gehsteig mit dem Hund spielten.

Der Parkplatz war überfüllt. Ralf wartete einige Minuten und hatte dann Glück. So nur noch einige Schritte. Endlich hatte Ralf den Eingang erreicht. Und erkundigte sich beim Portier, der ihn auf die gynäkologische Station verwies. Ralf war immer noch ahnungslos, was Dicks Zustand betraf. Vor dem Eingang der Station empfing ihn eine ältere Krankenschwester: „Guten Tag, Herr Schüller. Wir haben vorhin telephoniert. Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Schüller. Ihrer Frau geht es nun ja eigentlich sagt man den Umständen entsprechend, doch in diesem Fall ist diese Floskel fehl am Platz.“

Ralf runzelte die Stirn: „Wovon reden Sie, Schwester ....“, er warf einen Blick auf ihr Namensschild. „.... Ingeborg? Und was meinen Sie damit, dass die Floskel in diesem Fall nicht zutreffen kann.“
Schwester Ingeborg nestelte an dem kleinen, braunen Kreuz herum, welches sie um den Hals trug. „Hat es Ihnen niemand erzählt? Tatsächlich niemand. Nun, so werde ich es Ihnen berichten.“

In schlichten und einfachen Worten schilderte die weißgekleidete Schwester was sich alles ereignet hatte. Ralf wurde blass um die Nase: „Und davon habe ich nichts gewusst. Ich war so dumm.“
„Gehen Sie jetzt zu Ihrer Frau.“, riet Schwester Ingeborg behutsam. „Sie braucht sie jetzt gewiss.“
Ralf zögerte die Station zu betreten. Er verabscheute den Geruch, welcher von dort herauskam.

Schwester Ingeborg musste sich das Lachen verbeißen. Hastig blickte sie sich um, ob niemand in der Nähe war. Und meinte dann schmunzelnd: „Nun gehen Sie schon hinein, Herr Schüller. An dem Geruch von Karbolsäure ist noch niemand gestorben. Das müsste ich doch eigentlich wissen.“
Aber Ralf war viel zu aufgeregt, um über Schwester Ingeborgs Bemerkung lachen zu können.
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