Abenteuer auf Immenhof

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Andrea1984
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Quarantäne und ihre Folgen

Beitrag von Andrea1984 »

„Muss das sein, Jochen?“, wollte Oma Jantzen beim Mittagsessen wissen. „Ich habe mich so auf diesen Sommer gefreut. Und nun diese Hiobsbotschaft.“
„Wir haben keine andere Wahl, Oma.“, erklärte Jochen bedächtig. „Entweder wir öffnen das Ponyhotel wie geplant und riskieren, dass sich nur noch mehr Leute ansteckten oder wir begeben uns die vorgeschriebene Zeit in Quarantäne. Mach dir keine Sorgen, die Vorratskammern sind gut gefüllt und die Tiere werden ja von uns betreut.“
Dalli ließ den Kopf hängen. Es stimmte, was Jochen gesagt hatte.
„Wer hat die Diphterie eingeschleppt?“, hakte Oma Jantzen nach, schob das Besteck zusammen.
„Das weiß niemand so genau. Wir müssen uns daher isolieren, so gut wir können. Das bedeutet: Keine Briefe, keine Besuche, kein Einkaufen gehen, kein Reiten im Gelände und vieles mehr.“
„Anrufe sind erlaubt?“, Dalli drehte eine Haarsträhne, welche sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, zwischen den Fingern.
„Ja, weil sich dadurch niemand anstecken kann. Allerdings kosten Anrufe viel Geld.“
„Wir müssen doch Dick Bescheid geben und Onkel Pankranz und vielen mehr…“, meinte Dalli.
„Ich habe jeweils ein Telegramm geschickt, bevor die Auflage mit der Quarantäne gekommen ist.“
„Und weiter?“, Dalli konnte es kaum abwarten, zappelte herum wie ein Goldfisch auf dem trockenen.
„Bisher ist noch keine Antwort gekommen.“, antwortete Jochen ruhig, wie es seine Art war.
„Was kann ich tun? Mich bei den Ponys nützlich machen? Oder eher bei den Kindern hier?“
„Ausnahmsweise kannst du fünf gerade sein lassen. Die Ponys hast du ja schon versorgt.“
„Jochen, was soll das? Dalli muss lernen, die Zeit zu nützen und nicht tatenlos herumzusitzen.“
„Ich widerspreche dir nur ungern, Oma, doch wir haben jetzt Zeit, viel Zeit. Einige Wochen sogar.“
„Was sollen wir den Gästen sagen? Einige haben bereits im Voraus gebucht.“, Oma Jantzen winkte nach Trine, dass sie den Tisch abräumen konnte.
„Ich werde sie anrufen und ihnen Bescheid geben. Die Kontaktdaten habe ich.“, Jochen seufzte.
„Gut, dann mach dich an die Arbeit. Was bleibt für mich und die Mädchen?“
„Abwarten und Tee trinken.“, antwortete Jochen staubtrocken, stand auf. „Ich gehe dann mal telefonieren. Es werden viele Gespräche sein, etwas teuer, doch wir haben keine andere Wahl.“
„Wenn du es sagt, wird es wohl stimmen. Ich verlasse mich ganz auf dich.“, bestätigte Oma Jantzen.

„Darf ich die Ponys bewegen?“, fragte Dalli. „Im Paddock müsste es doch möglich sein.“
„Nicht nur dürfen, sondern sogar müssen.“, antwortete Jochen im Hinausgehen, drehte sich um.
„Ich werde auch meine Gymnastikübungen fortsetzen.“, zeigte sich Dalli optimistisch.
„Du siehst das alles so einfach.“, mischte sich nun Margot in das Gespräch ein.
„Wird es davon besser, wenn ich die Nase hängen lasse?“, gab Dalli postwended zurück.
„Ehrlich gesagt nicht, aber ich bin noch nie in so einer Lage gewesen. Komm, lass uns bei den Kindern nach dem Rechten sehen. Oder hast du etwas anderes vor?“
Die Kinder aßen oben im Kinderzimmer, da sie noch zu klein waren, um am Tisch Platz zu nehmen.

Dalli lehnte das Angebot höflich ab und ging lieber in die Ställe, wo sie Trost fand oder zu finden glaubte. Es war eine Art von Trost, die ihr die Menschen nicht geben konnten oder wollten.
Schneewittchen schnaubte, rupfte Gras ab, schnaubte wieder. Dalli drückte ihr Gesicht in die Mähne der weißen Stute, spürte wie Tränen in die Augen stiegen und ihre Lippe zitterte.
„Hier steckst du also.“, es war eine Feststellung.
Dalli wandte sich nicht um, sie erkannte die Stimme auch so.
„Was ist mit den Kindern?“
„Es geht ihnen nicht gut. Sie haben rote Wangen, Fieber und wollen nichts trinken.“, Margot seufzte.
„Oh nein. Erst die Kinder und dann kommt die Krankheit zu uns, wie weil sie hochansteckend ist.“
„Ich habe Angst.“, Dalli wandte sich um, schniefte, wischte sich die Nase am Jackenärmel ab.
„Vorhin hast du noch ganz anders geklungen.“, Margot nahm Dalli in die Arme.
„Ich stehe unter Schock. Die Nachricht hat mich aus heiterem Himmel getroffen.“, Dalli schniefte.
„Komm, lass uns das tun, was uns Jochen geraten hat, einfach mal fünf gerade sein lassen.“
„Das kann ich nicht. Ich bin doch zum arbeiten erzogen worden.“, Dalli biss sich auf die Lippen.
„Unsere Gesundheit geht vor. Wir müssen das beste aus dieser Situation machen, so gut es geht.“

Oft stand Dalli am Fenster, blickte nach draußen. In den Garten und die Ställe durfte sie gehen, jedoch das Gelände des Gutshofes nicht verlassen. Die Post wurde erst hereingebracht, nach dem sie desinfiziert worden war, um den Briefträger vor der Ansteckung zu schützen. Die ersten Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse und Dalli fing an, sich zu langweilen. Aber in der zweiten Woche, der insgesamt sechswöchtigen Quarantäne, brach die Krankheit bei allen Bewohnern, selbst bei den kleinsten aus. Dalli hustete, rang nach Luft, hatte das Gefühl zu ersticken. Wem sollte sie helfen? Die anderen waren auch nicht viel besser dran. Nun lag die ganze Arbeit, sowohl im Haus, als auch in den Ställen bei Trine und Hannes, die sich beide auch nicht besonders wohl fühlten, jedoch eine Bettruhe verweigerten. Dr. Pudlich wäre gerne gekommen, um zu helfen, aber er konnte nichts tun. Seine Patienten waren Tiere, nicht Menschen. Er rief fast täglich an, weil er sich Sorgen machte.

Am Tor draußen, so erfuhr es Dalli von Mans, welcher auf der anderen Seite des Gebäudes stand hing ein Schild: Das gesamte Gebäude befindet sich in Quarantäne und der Zutritt ist streng verboten.
Dalli winkte durch eines der Fenster und beobachte, wie Mans diese Geste erwiderte.
„So habe ich mir das nicht vorgestellt.“, dachte Dalli. Zum sprechen war sie zu erschöpft. Matt sank sie in einen der Liegestühle, die eigentlich den Gästen vorbehalten gewesen waren. Aber in diesem Sommer oder vielmehr Frühsommer war alles anders als sonst.

Der Kontakt mit den Gästen fehlte Dalli sehr. Wie oft hatte sie mit den Erwachsenen geplaudert, die Kinder bei Laune gehalten, Speisen serviert. Und nur war sie zum nichtstun verdammt. Essen konnte sie kaum etwas, nur lauwarme Säfte oder Tee trinken, da ihr Hals beinahe zugeschwollen war.
Trotz der Wärme durch die Sonne, hatte sich Dalli warm angezogen und fröstelte. Das Fieber raubte ihr jegliche Energie. Ein kleiner Trost waren die Briefe von Dick und ein Telegramm von Onkel Pankraz, der sich trotz oder gerade wegen der vielen Arbeit, die Zeit zum schreiben einfach nahm.

Dalli machte sich besonders um Oma Jantzen Sorgen, die ja schon etwas älter war. Aber jene versicherte, mit schwacher Stimme, es gehe alles gut und sie sei abgehärtet. Ein Hustenanfall unterbrach ihre Worte. Insgeheim tippte sich Dalli an die Stirn, wagte es nicht, die Geste zu zeigen.
Das Versorgen der Tiere nahm nur wenig Zeit in Anspruch. Für den Garten war Oma Jantzen zuständig. Also blieb Dalli nichts anderes übrig, als zu hoffen und zu abzuwarten. Sie blickte auf die Uhr: Ja, jetzt war es spät am Abend und Zeit, um jemanden anzurufen. Aus Kostengründen gestattete Jochen nur einen Anruf in der Woche. Diesmal war Ethelbert an der Reihe. Mit Jochens Erlaubnis ging Dalli ins sein Arbeitszimmer, um das Gespräch aufzubauen. Jochen saß am Tisch und nickte.
„Mensch, was macht ihr nur für Sachen. Wenn ich könnte, würde ich euch helfen.“, rief Ethelbert.
„Du hilfst uns schon mehr, als du meinst.“, krächzte Dalli. Sie konnte kaum laut sprechen.
„Womit? Ich kann von der Ferne nichts tun, leider.“, Ethelbert schnalzte mit der Zunge.
„Das Gespräch mit dir bedeutet mir sehr viel. Den anderen natürlich auch.“, versicherte Dalli nachdrücklich, um Ethelbert nur ja keine falschen Hoffnungen zu machen.
„Sobald ihr wieder frei seid, komme ich euch besuchen.“, versicherte Ethelbert nachdrücklich.
„Deine Geschäfte …“, Dalli rang nach Luft und nach Worten.
„Die sind nicht so wichtig wie ihr. In der Firma gibt es Mitarbeiter, die sich darum kümmern. Ich habe eine höhere Position und kann daher auf Urlaub gehen, wann und wie lange ich möchte.“
Dalli wollte sprechen, doch ihr fehlten die Worte. Also gab sie den Höhrer an Jochen weiter, der etwas besser bei Stimme war. Nach zwanzig Minuten beendete Jochen das Gespräch. Es wäre sonst teuer.

Dalli deutete auf einen Stift und ein Stück Papier. Jochen nickte. Dalli schrieb das auf, was sie eigentlich hatte sagen wollen: „Ethelbert hat sich tüchtig rausgemacht. Wer hätte das gedacht.“
Jochen schrieb zurück: „Ich weiß. Ich halte große Stücke auf ihn. Doch er muss aufpassen, dass er nicht zu abgehoben wird. Das viele Geld verdirbt ihn nur, habe ich den Eindruck. Er weiß nicht, was es heißt, hart zu arbeiten, sein Geld mühevoll zu verdienen, jeden Pfenning dreimal umzudrehen.“
„Ethelbert kann nichts dafür.“, antwortete Dalli auf dieselbe Art und Weise. Immer wieder musste sie den Stift absetzen, weil ihr das Schreiben schwerfiel. „Ich freue mich schon sehr darauf, ihn wiederzusehen. Als einen Freund, einen Kumpel. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Bist du dir da auch wirklich sicher? Ethelbert hat mir gegenüber einmal etwas angedeutet, dass er mehr in dir sieht, als nur eine Verwandte oder einen Kumpel oder was auch immer.“
„Dann tut er mir leid, weil ich ihm nicht das geben kann, was er möchte.“, Dalli hustete laut.
„Überleg es dir doch noch einmal. Wenn du Ethelbert heiraten würdest, wärest du versorgt.“
„Geld ist mir nicht so wichtig, nie gewesen. Ich habe doch alles, was ich brauche.“
„Lass uns dieses Gespräch vertragen. Ich bin müde und du siehst auch nicht gerade taufrisch aus.“
Dalli zwinkerte ihrem Schwager freundschaftlich zu, während sie das Arbeitszimmer verließ.

Am nächsten Tag regnete es in Strömen. Dalli stand morgens auf, wie es sieh gewohnt war. Doch sie fühlte sich immer noch schlapp. Zu schlapp, um im Haushalt mitzuhelfen und die Ponys zu versorgen. Das Frühstück verlief schweigend, ruhiger als sonst. Margot war oben im Schlafzimmer bei den Kindern geblieben. Paulina und Markus waren jetzt 3 ½ Jahre alt und sehr lebhaft. Sie verstanden nichts von den Sorgen der Erwachsenen. Sarah war etwas über 2 Jahre alt und eher still.
Dalli trank nur etwas Tee und bat darum, aufstehen zu dürfen. Oma Jantzen nickte, legte Dalli eine Hand auf den Arm, um ihr zu signalisieren, dass es in Ordnung war. Langsam ging Dalli nach oben, Schritt für Schritt. Jeder kostete sie Energie. Am Treppenabsatz wurde sie von Margot erwartet.
„Den Kindern geht es nicht gut. Was sollen wir tun?“, Margot war blasser als sonst.
„Lass uns den Arzt rufen. Das ist ein Notfall.“, meinte Dalli etwas voreilig, ohne sich mit Jochen oder Oma Jantzen abzusprechen. In Zeiten wie diesen galten normale Maßstäbe nicht mehr.
„Ich mache schon. Bleib du derweilen bei den Kindern. Flöße ihnen etwas lauwarmen Apfelsaft ein. Die Wadenwickel habe ich gerade erst aufgelegt, sie müssten noch eine Weile halten.“

Der Arzt traf am späten Vormittag ein, untersuchte zuerst die Kinder, ehe er sich den Erwachsenen zuwandte: „Es sieht schlecht aus. Wir können kaum etwas tun, außer hoffen und beten.“
„Ist es so schlimm?“, in Jochens Augen zeigte sich Besorgnis.
„Ich habe alles getan, was ich gelernt habe. Doch für die kleine Sarah habe ich kaum noch Hoffnung.“
„Bitte nicht. Es muss doch noch einen Ausweg geben.“, Jochen hieb sich mit der Faust in die flache Hand. „Was sollen wir tun? Ich kann es nicht ertragen, noch einmal jemanden zu verlieren.“

Aber es war zu spät. Kurz vor Mittag starb Sarah in den Armen ihrer Eltern. Margot weinte, Jochen zeigte seine Gefühle nicht, aber auch er war getroffen. Paulina und Markus schliefen im Nebenzimmer. Sie ahnten noch nichts, was geschehen war.
„Lasst sie schlafen. Sie werden es noch früh genug erfahren.“, meinte Oma Jantzen.Auch sie weinte, wie Dalli es nur selten bei ihr gesehen hatte.
„Komm, leg dich hin, du brauchst Ruhe. Wir können hier nichts mehr tun.“
„Erst ein Sohn, dann eine Enkelin und nun auch noch eine Art Urenkelkind.“, Oma Jantzen schluckte. „Womit habe ich das nur verdient?“
„Du hast doch mich und Dick und Ethelbert und Onkel Pankraz und viele andere Kontakte.“
„Nur du bist hier, um mir zu helfen. Dick ist schwanger, leider weit weg von uns.“
Dalli brachte Oma Jantzen zu Bett, deckte sie vorsichtig zu: „Versuche zu schlafen. Ich werde Jochen und Margot helfen, so gut ich es kann. Du wirst schon sehen. Wir schaffen das alles gemeinsam.“

Dalli telefonierte mit Mans und bat ihn, Dick und Ethelbert und Dr. Pudlich Bescheid zu geben. Mans versicherte, er werde das schon machen. Erleichtert legte Dalli den Hörer auf, atmete tief durch.
Noch am selben Tag wurde Sarah abgeholt. Wie durch einen Schleier nahm Dalli alles wahr. Doch sie durfte sich nicht gehen lassen. Jochen und Margot und Oma Jantzen brauchten sie hier und jetzt.
Mit Takt und Umsicht bat Dalli darum, alles für die Beerdigung der Kleinen in die Wege zu leiten, so gut das in der Quaratäne möglich war. Ein Anruf hier, ein Anruf da und die Sache war geklärt.

Auf Wunsch von Jochen und Margot wurde Sarah vorerst auf Eis gelegt. Die Beerdigung sollte zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Die Quarantäne wurde endlich aufgehoben.

Dalli begleitete Margot an einem sonnigen Tag Ende August ins Krankenhaus, um sich von Sarah zu verabschieden und ihr ein schönes Kleid anzuziehen, sowie ein Stoffier mitzugeben.
Dalli fühlte, wie Margot den Schmerz mit ihr teilte. Zum ersten mal kam sich Dalli erwachsen vor.
„Sarah wäre eine tolle große Schwester geworden.“, sagte Margot auf dem Rückweg.
„Wie meinst du das?“, Dalli blieb stehen, band eine Schlaufe am Schuh neu.
„Wie ich es gesagt habe. Ich bin in der 14. Woche. Ende Februar soll das kleine geboren werden.“
„Sarah wird nie vergessen sein. Niemals.“, antwortetet Dalli.
„Das Leben geht weiter. Davon hat mich Jochen überzeugt, nachdem ich ihm von dem Baby erzählt habe. Man muss lernen, loszulassen und nicht ständig in der Vergangenheiut leben.“
„Dann werden wir also das Ponyhotel im nächsten Jahr wieder öffnen? Wird dir das nicht zuviel werdren?“
„Ich habe ja dich als Hilfe.“, Margot lächelte, faltete die Hände über ihrem Bauch.
„Bei Dick müsste es ja auch bald soweit sein, wenn ich richtig gerechnet habe.“
„Sie weiß noch nicht, dass es bei uns wieder Nachwuchs gibt. Lass ihr noch etwas Zeit damit.“
„Klar, du kannst dich auf mich verlassen.“, versicherte Dalli nachdrücklich. „Ich sage nichts.“

An der Beerdigung der Kleinen nahmen nur Jochen und Margot teil. Oma Jantzen fühlte sich dem allen nicht gewachsen und Dalli blieb am Immenhof, um Oma Jantzen zur Seite zu stehen.
Paulina und Markus spielten im Garten, als ob nichts gewesen wäre.
„Kinder vergessen schnell. Sie werden erst später die ganze Wahrheit erfahren.“
„Genau wie ich.“, Dalli biss sich auf die Lippen.
„Worauf bezieht sich dein Kommentar?“, Oma Jantzen drehte den Sonnenschirm nach links, um die Kinder besser beobachten zu können. „Auf deine Eltern? Oder auf Angela?“
„Auf beide. Und ich habe Angst, dass mir etwas passieren könnte, falls ich selbst einmal schwanger werden würde. Ich kann mit niemanden darüber reden.“, Dalli atmete tief ein und aus.
„Das ist es also. Du möchtest Kinder haben. Und mit wem? Ich ahne es.“
„Ja, ich werde Ethelbert wohl eine Chance geben, wenn er mich danach fragt. Es kann nur besser sein, für uns alle. Vielleicht unterstützt uns Ethelbert finanziell, wenn es für ihn passt.“

Am 15. September traf ein Telegramm aus Lübeck ein: Felix war stolzer, großer Bruder von Benjamin Walter geworden. Die Geburt war gut verlaufen. Diesmal sollte jemand aus der Familie Schüller die Taufpatenschaft übernehmen, wie im beiliegenden Brief zu lesen stand. Dalli freute sich sehr darüber.
„Arme Dick. Als einzige Frau in einem reinen Männerhaushalt wird sie es nicht einfach haben.“
„Wem sagst du das? Ich habe dasselbe erlebt, allerdings ist es einige Jahre her.“, Oma Jantzen weinte schon wieder, diesmal jedoch aus Rührung über die frohe Botschaft.
„Dann muss sich Dick tüchtig ranhalten, damit sie eines Tages ein Mädchen bekommt.“
„Du Frechdachs. Nichts kann dich wohl aufhalten.“, Dalli spürte, wie ihre Ohren rot anliefen.
„Ich gehe jetzt reiten, die Ponys brauchen Bewegung und ich auch.“
„Alleine?“, zeigte sich Oma Jantzen besorgt.
„Ich kenne die Wege hier wie meine Westentasche.“, versicherte Dalli nachdrücklich.

In diesem Herbst besuchte sie endlich den gewünschten Kurs in Buchhaltung in Lübeck. Der zweite Kurs für Schreibmaschineschreiben war zu teuer, aber Jochen versprach, Dalli einige Kniffe beizubringen. Sie sei noch jung und könnte daher viel lernen. Dalli nahm die Hilfe gerne an.
Ihre Lebensgeister, die sie im Sommer beinahe verlassen hatten, kamen wieder zurück. In diesem Herbst und Winter fieberte Dalli auch, jedoch lediglich im übertragenen Sinn, nämlich ihrem 21. Geburtstag entgegegen. Dann würde sie endlich volljährig sein. Wie lange hatte sie darauf gewartet.

Zu Weihnachten kamen Onkel Pankraz, Ethelbert, sowie Dick und Ralf mit ihren Kindern zu Besuch. Vor der gesamten Familie machte Ethelbert Dalli einen Heiratsantrag, den sie ohne zu zögern annahm. Die Verwandtschaft bestand, war jedoch nach rechtlichem Sinn, kein Hinderungsgrund. Dalli sah immer wieder auf den silbernen Ring, der an ihrem Finger wie der Schnee in der Sonne glitzerte.
„Wann soll die Hochzeit stattfinden?“, wollte Dick wissen, die gerade ihren jüngeren Sohn stillte.
„Wenn es nach mir ginge, sobald wie möglich.“, antwortete Ethelbert mit breitgeschwellter Brust.
„Eile mit Weile, ich habe ja noch nicht mal eine Aussteuer beisammen.“
„Du wirst es schon schaffen. Was meint ihr zu einem Termin im kommenden Sommer?“
„Da gibt es zuviel Arbeit hier und im Ponyhotel. Ich schlage daher einen Termin im März oder im April vor.“, bot Oma Jantzen an. „Bis zum Herbst wohl ihr wohl kaum warten, oder?“
Schnell einigte man sich auf einen Termin nicht im März oder im April, sondern im Mai. Das Ponyhotel sollte erst im Juni seine Tore für alle öffnen.

Noch am selben Tag unternahmen Dalli und Ethelbert einen Spaziergang durchs Dorf, um jedem ihr Glück vorzustellen. Den Rückweg legten sie jedoch alleine zurück, Hand in Hand.
„Ist dir kalt?“, wollte Ethelbert besorgt wissen.
„Im Gegenteil. Mir ist warm, innerlich so warm vor lauter Freude. Margot hat recht, das Leben geht weiter und wir sollen das Beste daraus machen.“, meinte Dalli, in einem ruhigen Tonfall.
„Du bist erwachsen geworden, seit ich dich damals 1955 zum ersten mal gesehen habe.“

Dalli beugte sich zu Ethelbert, um ihm einen Kuss zu geben. Jetzt durfte sie es, ohne sich um das Gerede der Leute Gedanken zu machen. Wie weich sich doch Ethelberts Lippen anfühlten.
„Alles andere probieren wir aus, wenn wir den Segen des Pastors haben.“
Dalli tat so, als ob sie von nichts eine Ahnung hätte, aber am Land blieb ihr nichts verborgen. Schon oft hatte sie gesehen, was zwischen einer Stute und einem Hengst passiert war und welche Folgen sich daraus ergeben hatten. Unter den Menschen ging es kaum anders zu.
„Das ist doch selbstverständlich. Wobei Oma nichts dagegen hätten, wenn wir schon vorher. Dick hat ja in einem zu engen Brautkleid geheiratet. Wer soll es uns also verbieten?“
„Die Moral und die Sittlichkeit. Besonders in einem kleinen Dorf, wo jeder jeden kennt und irgendwie verwandt ist, ohne es zu wissen.“
„Wo werden wir nach der Hochzeit leben?“
„Was ist das für eine Frage.“, Ethelbert hob eine Augenbraue. „Auf dem Immenhof natürlich. Ich kann dir nicht zumuten, dich in der Großstadt zu akklimatisieren, wo du doch am Land groß geworden bist.“
„Aber das Gut deiner Eltern?“, Dalli machte sich durchaus Gedanken darum.
„Das können wir behalten und verpachten oder verkaufen, ganz wie du willst. Mir ist es zu groß.“
„Lass uns mit Oma und den anderen darüber reden. Die haben bestimmt einen guten Rat.“
„Jetzt habe ich dich endlich, nun lasse ich dich nicht mehr los.“, Ethelbert gab Dalli noch einen Kuss.
"Walzer .... Walzer hätt' ich auch gekonnt."
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Alpträume

Beitrag von Andrea1984 »

„Was ist es?“, erkundigte sich Dalli mit matter Stimme. Kein Wunder, nach dieser schmerzhaften Entbindung, nun schon die dritte innerhalb von drei Jahren. Was ertrug sie nicht alles, um – wie Ethelberts Mutter es ausdrückte – dem Erlenhof den „erhofften Erben“ zu schenken? Kuraufenthalte in Baden-Baden und in der Schweiz, unzählige medizinische Untersuchungen und vieles mehr.
„Wieder nur ein Mädchen.“, Ethelberts Mutter seufzte, während die Hebamme das Kind versorgte. „Ich weiß nicht, woran es liegt. Allmählich läuft die Zeit davon. Was soll nur aus dem Immenhof werden?“
Dalli brach in Tränen aus, wandte das Gesicht ab. Wo steckte Ethelbert, wenn man ihn brauchte?

Ein paar Minuten später waren Dalli und die Hebamme alleine.
„Wein dich nur aus. Das tut gut.“, meinte die Hebamme, legte das kleine Mädchen in Dallis Arme.
„Sie hat Durst, ich fühle das.“, vorsichtig ließ Dalli das Baby trinken. „Eigentlich darf ich das nicht.“
„Warum nicht? Muttermilch ist das gesündeste, was du hergeben kannst.“
„Meine Schwiegermutter meint, es gehört sich für eine Dame nicht.“
„Vielleicht ist sie neidisch, weil sie ihr Kind selbst nie stillen durfte.“, die Hebamme fühlte bei Dalli den Puls.
„Das wäre eine Möglichkeit. Aber darübe redet man nicht. Nur über oberflächliche Themen.“
„Habt ihr schon einen Namen für das Mädchen gefunden?“
„Ich weiß nicht so recht.“, Dalli gab zu, sich darüber keine Gedanken gemacht zu haben, da sie sicher mit einem Jungen gerechnet hätte. „Das soll Ethelbert entscheiden. Er ist doch der Herr im Haus.“
„Die Zeiten haben sich geändert, allerdings ist das noch nicht bei jedem so recht angekommen.“
Dalli ließ das Mädchen aufstoßen, wechselte die Seiten. Für eine Weile war alles ruhig.

„Wie lange darf ich diesmal eine Pause machen?“, erkundigte sich Dalli nach einer Weile.
„Dein Körper braucht Ruhe, sehr viel Ruhe. Ich lasse mir etwas einfallen, so dass deine Schwiegermutter nichts dagegen tun kann.“
„Das wäre sehr nett von dir.“, Dalli gähnte. „Wie spät ist es? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren.“
„Gerade ist die Sonne aufgegangen. Du hast über 8 Stunden in den Wehen gelegen.“
„Das ist beinahe ein neuer Rekord.“, Dalli verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, doch es kam nur eine Grimasse heraus. „Wie of muss ich diese Bürde einer Schwangerschaft noch erleben?“
„Du empfindest es als eine Bürde?“, die Hebamme badete das kleine Mädchen vorsichtig.
„Ja, ich würde alles darum geben, frei und sorglos wie früher sein zu können, nicht ständig von den Launen meiner Schwiegermutter und dem Personal abhängig zu sein.“
„Wer wünscht sich das nicht? Jeder auf seine Weise, versteht sich.“, die Hebamme kam wieder zurück ans Bett, welches zerknittert war. „Sieh nur, wie die Kleine dir aus dem Gesicht geschnitten ist.“
„Was nützt es? Ich werde sie ja wohl kaum zu Gesicht bekommen, da sie im anderen Trakt des Gebäudes untergebracht sein wird, wie ihre beiden großen Schwestern auch.“

Noch am selben Tag erhielt die Kleine, welche sehr zart wirkte die Taufe. Da die Namen der beiden Großmütter – Mathilde und Friederike schon vergeben waren – wurde diesmal ein neuer Name gewählt. Dorothea. Dalli hatte in dieser Hinsicht wenig mitzureden. Ethelbert wagte es nicht, sich gegen die Meinung seiner Mutter zu stellen, so kam es Dalli auch diesem Fall vor.

Entgegen den Plänen waren Dalli und Ethelbert nicht auf dem Immenhof geblieben, sondern zu Ethelberts Eltern nach München oder vielmehr auf den Erlenhof gezogen. Dalli hatte keine Wahl gehabt, auch wenn Oma Jantzen alles versucht hatte, um wenigstens diese Enkelin in ihrer Nähe behalten zu wollen. Gleich nach den Flitterwochen war Dalli schon schwanger geworden und hatte, nur 11 Monate nach der Hochzeit, ihrer ersten Tochter Mathilde das Leben geschenkt. Noch war alles eitel Sonnenschein gewesen. Dalli war froh gewesen, überhaupt ein gesundes Kind zu haben und Ethelbert auch. Er meinte, es sei alles halb so schlimm und man werde eben das nächste mal einen Jungen bekommen.

Aus Gründen der Schicklichkeit durfte Dalli ihre Kinder nicht stillen. Vom Personal konnte sie nur wenig auf Hilfe hoffen. Alle Dienstboten standen unter der Fuchtel von Dallis Schwiegermutter. Kein Wunder, waren sie schon seit vielen Jahren im Haus und wussten über alles gut Bescheid.
Nur wenige Tage nach den Entbindungen von Mathilde und Friederike musste Dalli ihren Pflichten wieder nachgehen, als ob nichts gewesen wäre. Lediglich in diesem Fall bekam sie etwas Schützenhilfe. Dalli wagte es nicht, mit Ethelbert darüber zu reden. Er meinte, alles was seine Mutter täte, sei gut und richtig. Ethelberts Vater war ließ sich in der Kinderstube nicht blicken. Er war schon älter, wollte nur seine Ruhe haben und gab sich generell mit Kindern nicht sonderlich viel ab.

Dalli kam sich vor wie in einem goldenen Käfig. Mochten „draußen“ die Zeiten noch zu stürmisch sein, Leute streiken oder was auch immer, sie selbst war gefangen in einem Zustand, den sie nicht erhofft hatte. Sie wollte neue Länder kennenlernen, Abenteuer erleben und nicht immer nur Konversation führen, zu Bällen, Tanzabenden, Partys und dergleichen mehr gehen.

Dalli schrieb nur unverfängliche Briefe nach Hause – womit sie den Immenhof meinte, es jedoch nicht laut sagte – man konnte ja nie wissen, ob die Briefe nicht vielleicht kontrolliert und zensuriert wurden. Dalli hatte, außer Ethelbert, kaum jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Tagsüber setzte sie eine Maske auf und ließ sie nur noch in intimen Momenten fallen. Eine durchweinte Nacht oder vielmehr etliche durchweinte Nächte ließen sich mit Schminke problemlos kaschieren.
Dalli passte sich nach außen hin an, so gut sie es vermochte, auch was die Kleidung betraft: Statt leichter, bequemer Kleider, trug sie nun schwere, dunkle Stoffe, die ihre schmale Taille betonten.

Diesmal nützte Dalli die Schonfrist, welche ihr die Hebamme gegeben hatte, bis zum letzten Tag aus. Erst dann gestattete Dalli es Ethelbert wieder in ihr Bett zu kommen. Ja, sie bewohnten getrennte Schlafzimmer, weil Ethelbert gelegentlich unterträglich laut schnarchte. Oft war Dalli nachts alleine. Ethelbert hatte geschäftlich viel zu tun oder war bereits müde. Die Kinder wurden vom Personal versorgt. Dalli sehnte sich danach, mit jemandem zu kuscheln und zu schmusen, doch diese Option gab es hier nicht. Tiere im Schlafzimmer waren tabu, was für Hunde und für Katzen galt. Hunde dienten dem Schutz des Hauses, Katzen in der Scheune und den Ställen als Mäusefänger.

Das nächste Ehejahr verlief zunächst ruhig. Gegen Ende des Sommers stellte Dalli abermals eine Schwangerschaft fest. Bei den Symptomen gab es keinen Zweifel. Das Baby wurde für Februar des kommenden Jahres erwartet. Dalli ließ sich nach außen hin nichts anmerken. Sie durfte sich nicht ausruhen, auch wenn ihr noch so übel war. Also gab sie sich tapfer, lächlte und winkte.
„Diesmal wird es ein Junge, ich bin mir ganz sicher.“, Ethelberts Mutter grinste wie ein Honigkuchenpferd.
„Woher willst du das wissen?“, Dalli faltete die Hände über ihrer deutlichen Wölbung, die sich inzwischen, jetzt war es Oktober, nicht mehr verbergen ließ.
„Weil dir ständig übel ist. Ich habe es damals auch durchgemacht, bei Ethelbert.“
„Darüber redet man nicht.“, Dalli hörte sich an, als sei ihr eine Tomate im Hals steckengeblieben.
„Wir sind doch unter uns. Hier in meinem kleinen Salon.“, Ethelberts Mutter nippte an ihrem Tee.
„Die Wände haben Ohren.“, widersprach Dalli in einem unterwürfigen Tonfall, den sie sich angewöhnt hatte.
„Die Dienstboten sind jetzt alle in der Küche und im Garten beschäftigt. Mach dir keine Sorgen.“
„Ich fühle mich so leer, irgendwie.“, gab Dalli offen zu.
„Leer? Wie darf ich das verstehen? Meinst du, im Sinne von „nicht ausgelastet sein“?“
„So etwas in der Art, ja. Ich möchte mehr tun, als von einer Dame der Gesellschaft erwartet wird.“
„Etwa unbekleidet für eine Zeitschrift posieren?“, Ethelberts Mutter rümpfte die Nase.
„Das nun nicht.“, Dalli lachte, stieß leise auf, wurde wieder ernst. „Ich möchte mich gerne mehr um meine Kinder kümmern. Sie erkennen mich nicht, wenn ich sie in der Kinderstube besuche.“
„Das bildest du dir nur ein. Kinder können das nicht einschätzen.“, winkte Ethelberts Mutter ab, wechselte elegant das Thema. Dalli blieb nichts anderes übrig, als ihren Plan fallenzulassen.

Der Herbst und der Winter vergingen schnell, zumindest kam es Dalli so vor. Obwohl das Baby für Ende Februar erwartet wurde, ließ es sich deutlich Zeit. Erst eine Woche, dann zwei. Und dann ging plötzlich alles schnell. So sehr, dass nicht einmal die Hebamme gerufen werden konnte. Dalli erhielt Unterstützung von Ethelbert, der sich, zum ersten Mal, gegen seine Mutter durchsetzte.

Bereits wenige Stunden, nachdem Dalli die ersten Wehen gespürt hatte, war das Baby schon da. Wie die großen Geschwister erblickte es in Dallis Schlafzimmer das Licht der Welt, oder vielmehr die Neonlampe, da es draußen bereits finster geworden war.
„Hör nur, was das Baby für eine Stimme hat.“, meinte Ethelbert. Dem sonst so beherrschten Mann standen die Tränen in den Augen. „Hier bitte sehr, darf ich dir eine weitere Tochter vorstellen.“
Dalli standen ebenfalls die Tränen in den Augen, jedoch aus Kummer: „Bist du mir böse?“
„Du kannst nichts dafür. Ich freue mich sehr darüber, dass die Kleine gesund ist.“
„Ich möchte mit Dick tauschen. Sie hat fast nur Jungs und wenige Mädchen.“
„Ja, wenn das so einfach wäre.“, Ethelbert schnitt die Nabelschnur vorsichtig durch. „Möchtest du noch mehr Kinder haben? Wenn nicht, ist das kein Problem für mich.“
„Platz haben wir genug …“, Dalli wischte sich die Nase in einen Zipfel der Bettdecke. „Lass mir Zeit. Ich weiß auch nicht, woran es liegt, dass wir keinen Jungen bekommen.“

Dalli und Ethelbert einigten sich auf einen Kompromiss: Sie wollten noch zwei weitere Kinder haben. Egal ob Mädchen oder Jungen, Hauptsache gesund. Noch während Dalli im Wochenbett lag, sprach Ethelbert mit seiner Mutter, wie die Schwangerschaften für Dalli psychisch schwierig seien und der Erfolgsdruck hoch. Je älter die Mutter, desto höher sei das Riskio einer Fehlgeburt oder andere Probleme. Dagegen konnte auch Ethelberts Mutter nichts sagen, nur soviel dazu, dass sie selbst schon etwas älter und daher froh gewesen sei, wenigstens ein gesundes Kind zu haben.

Kurz nach dem ersten Geburtstag der kleinen Henriette wurde Dalli wieder schwanger. Anfangs wollte sie es nicht wahrhaben, doch sie hatte es Ethelbert fest versprochen. Diesmal sollte es im Dezember soweit sein. Bei einer Untersuchung stellte es sich heraus, dass diesmal Zwillinge unterwegs waren. Ethelbert konnte sein Glück kaum fassen, während Dalli skeptisch war. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Es gab keinen Ausweg, also musste Dalli ihre Lage wohl oder übel akzeptieren.

Auch bei dieser Schwangerschaft war Dalli von Beginn weg übel. So sehr, dass sie nicht einmal ihren gesellschaften Pflichten nachgehen konnte, obwohl sie sich redlich darum bemühte. Ihre Töchter wollte sie nicht sehen. Schwäche zeigen, gegenüber den Kindern, wo kam man denn da hin.
Von allen Seiten erhielt Dalli aufmunternde Ratschläge, die sich einig waren, was die Schonung anging. Die Hebamme kam oft vorbei, weniger aus medizischen Gründen, sondern vielmehr um mit Dalli zu reden. Eigentlich galt die ärztliche Schweigepflicht nur für Ärzte, doch die Hebamme stellte eine Ausnahme dar. Dalli war froh um jeden Besuch, aber sie durfte die Hebamme nicht zu oft holen lassen, damit niemand Verdacht schöpfte. Nach wie vor hatten die Wände Ohren und das überall.

Im Sommer kamen Dick und Ralf und ihre Kinder zu Besuch. Nach den Geburten der ersten beiden Söhne hatte es das Paar auf insgesamt vier Kinder, darunter noch zwei Töchter gebracht. Dick wollte keine Kinder mehr, doch wenn noch das eine oder das andere Kind dazukäme, könnte sie es nicht ändern. Dalli hörte ihrer Schwester viel zu, ließ sich Ratschläge geben, was alles zu beachten sei.
In diesem Sommer kamen sich die beiden Schwestern sehr, sehr nahe.

Dalli bedauerte, dass Margot nicht auch vobeikommen konnte, aber im Ponyhotel gab es viel Arbeit und die Kinder mussten versorgt werden. Nach dem Tod der kleinen Sarah und der Fehlgeburt einige Zeit später, ließ Margot ihre überlebenden Kinder Paulina und Markus kaum eine Sekunde aus den Augen. Jochen lachte darüber, während Oma Jantzen hingegen Verständnis für Margot zeigte.

Im Herbst starb Onkel Pankraz völlig unerwartet an einem Herzinfarkt. Sofort stand für Dalli fest, wenn eines der Babys ein Junge würde, dass er den Namen Pankraz tragen sollte. Dagegen konnte niemand etwas sagen. Falls auch das zweite Baby ein Junge würde, wäre der Name Julius, nach Dallis Schwiegervater, bereit. Auch die übrigen Namen, Mathilde, Friederike, Dorothea und Henriette stammten aus der Familie. Die Mädchen entwickelten sich gut, wie Dalli vom Personal erfuhr.

Sie war optimisch, es würde schon alles recht werden. Am liebsten hätte sie ein Tagebuch geführt, aber sie vertraute ihrer Schwiegermutter nicht, die ihre Augen und Ohren überall hatte, ohne Rücksicht auf Verluste ihren Kopf durchsetzte, egal was kam, wie die politische Lage oder das persönliche Befinden war. Alles musste so sein, wie es schon seit jeher gewesen war. Nur keine großen Veränderungen, die konnten nichts gutes bringen, wie z. B. die Berliner Mauer.

Dalli kam von der Weltpolitik durchaus einiges mit, doch sie wagte es nicht, ihre Meinung öffentlich zu äußern, um ihren Ruf und den ihrer Familie nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Sie war froh, dass wenigstens Ethelbert zu ihr hielt, egal, was passierte. Doch ohne ihn würde sie nichts sein. Ethelbert war zwar noch jung, aber der Tod konnte jederzeit unerwartet vor der Türe stehen, wie Dalli es bei Onkel Pankraz mitbekommen hatte. Als Trost blieb ihr nur die schöne Erinnerung an ihn: Erlebnisse auf dem Immenhof, Briefe, Telegramme als Glückwünsche zu den Geburten der Kinder.

Den Winter über trug die Familie schwarz, schränkte viele gesellschaftliche Verbindungen auf das notwenigste ein. Alles aus Rücksicht auf den Verstorbenen. Dalli hatte nun durchaus einen Grund öffentlich Tränen zu vergießen und zeigte es auch, egal, was die Leute von ihr dachten. Wenn jemand sie danach fragte, so meinte sie, es sei wegen der Trauer um Onkel Pankraz oder es läge an der fortgeschrittenen Schwangerschaft. Beides war plausibel und wurde daher problemlos akzeptiert.
Anfang Dezember kam ein Photograph auf den Erlenhof, porträtierte die ganze Familie. Zuerst nur die Erwachsenen, dann kamen auch die Kinder dazu. Dalli biss die Zähne zusammen, lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Die Bilder sollte noch vor Weihnachten fertig sei und als Geschenke auf den Immenhof verschickt werden. Es wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Am 24.Dezember gab es nur das beste und das teuerste, was das Essen und die Geschenke betraf.

Sechs Tage nach Weihnachten war Dalli für ihre, wie sie hoffte, letzte Entbindung bereit. Auch diesmal holte sie Ethelbert zu Hilfe, weil sie ihm vertraute und sich bei ihm geborgen fühlte. Die größeren Kinder wurden vom Personal betreut, während Dallis Schwiegereltern im Salon saßen und sich einen Cognac, zur Beruhigung der Nerven gönnten, wie Dalli von Ethelbert erfuhr.

Sie hopste hin und her, um endlich die Wehen auszulösen. Gegen Mittag ging es los. Anders als bei den vorigen Entbindungen ließ Dalli ihrem Schmerz freien Lauf. Wer sollte es ihr verbieten?
„Alle weiteren Kinder kannst du bekommen!“, schrie Dalli, krallte ihre Hände in Ethelberts Arm.
„Das ist biologisch gar nicht möglich. Alles wird gut, du schaffst das schon. Kopf hoch.“
„Ich gebe dir gleich was mit Kopf! Ahh, der erste Kopf kommt schon und jetzt die Schultern!“
Dalli atmete tief durch, ließ das erste Baby aus sich herausgleiten. Ihr Körper wusste schon, was zu tun war. Ein durchdringender Schrei hallte von den Wänden wieder.
„Gleich hast du es geschafft. Mach weiter so. Das nächste Baby kommt schon.“
„Wie kann ich das nur vergessen!“, wimmerte Dalli, ihre Haare klebten schweißnass im Nacken.
Diesmal dauerte es eine Weile, aber dann war auch das zweite Baby auf der Welt.

Die Hebamme, welche inzwischen eingetroffen war, untersuchte beide Kinder gründlich, meinte es sei alles gut. Beide wären etwas zu klein, aber das verwachse sich noch, immerhin hätten sie sich neun Monate den Platz teilen müssen, da könne nicht jeder den engen Raum für sich beanspruchen.
„Was ist es? Oder vielmehr was sind die beiden?“, wollte Dalli neugierig wissen. Alle Schmerzen waren vergessen, sie konnte es kaum abwarten, die Babys zu sehen und zu versorgen. Egal, ob es zwei Mädchen oder ein Mädchen und ein Junge oder zwei Jungen wären, nun brauchte sie sich nie wieder dieser Prozedur einer Schwangerschaft und einer Entbindung zu unterziehen, nie wieder.

„Herzlichen Glückwunsch: Es sind zwei gesunde Jungen.“, präsentierte die Hebamme die eindeutigen Beweise. Ethelbert schnitt die Nabelschnur durch, diesmal jedoch mit zitternden Händen.
Auf Dallis Bitte hin erhielten die beiden die festgelegten Namen: Pankraz und Julius.
„Ich bin stolz auf dich.“, verkündete Dallis Schwiegermutter mit leuchtenden Augen, als sie die Kleinen, die inzwischen versorgt und gebadet waren, besichtigte. „Das hast du sehr gut gemacht.“
„Ich habe auch meinen Teil dazu beigetragen.“, ergänzte Ethelbert. „Nun brauchst du Dalli nicht mehr unter Druck setzen und kannst in Ruhe deinen Lebensarbeit genießen.“
„Oh du Lausbub. Aber heute lasse ich Gnade vor Recht ergehen, an diesem freudigen Tag.“

Dalli fühlte sich erleichtert, im doppelten und dreifachen Sinn. Endlich hatte sie ihre Pflicht erfüllt, deretwegen man sie auf den Erlenhof geholt hatte. Nun durfte sie sich mehr um ihre Kinder kümmern, die beiden jüngsten sogar selbst stillen, allerdings jedoch nicht in der breiten Öffentlichkeit.
Kaum hatte sie das Wochenbett verlassen, fühlte sie sich, als könnte sie Bäume ausreißen, näherte sich langsam den großen Mädchen an, die keineswegs eifersüchtig auf ihre Brüder waren. Oder einfach noch zu klein, um alles zu begreifen. Dalli wusste nicht recht, an wen sie sich wenden sollte, wenn es um die Erziehung der Kinder ging und war froh, mit dem Personal reden zu können.

Allmählich lockerte Dallis Schwiegermutter ihre Auflagen und erlaubte es Dalli und Ethelbert auf Reisen zu gehen, jedoch nicht in den „gefährlichen Osten“. Dalli und Ethelbert nahmen das Angebot gerne an. Mal verreisten sie alleine, dann mit den Kindern, jedoch ohne dem Personal. Dalli hatte nun endlich erreicht, was sie wollte und hätte am liebsten mit jedem, auch mit Fremden, ihr Glück geteilt.

Das Ponyhotel florierte gut, so dass Dalli und Ethelbert ihre Kinder dort für einige Tage unterbrachten, wo sie nach Herzenslust spielen und auf dem Heuboden und im Stall herumtoben konnten. Dalli genoß es auch, sich verwöhnen zu lassen, selbst wenn es nur für ein paar Stunden war. Sie empfand es anders als früher, aber das Gefühl von Wärme und Geborgenheit war immer vorhanden.

Alles war gut, besonders ihre Liebe zu Ethelbert wurde von Tag zu Tag stärker. Nicht nur des Geldes wegen, wie böse Zungen annahmen oder wegen der weitschichtigen Verwandtschaft, sondern aus freien Stücken und ehrlichen Herzens. Er hatte immer zu ihr gehalten, egal, wie es ihr ergangen war. Dalli wusste es durchaus zu schätzen und zeigte ihre Liebe auf ihre Weise, mit Küssen und Händchen halten in der Öffentlichkeit, auch wenn sich die Nachbarn, besonders in Malente, die Mäuler darüber zerrissen. Sollten sie doch. Was gingen Dalli die Leute an. Mit ihren bald 30 Jahren hatte sie gelernt, über den Dingen zu stehen, das Leben zu genießen, ohne dabei ihre Pflichten zu vernachlässigen.
Nach den langen Jahren der Kindheit in Armut, wo jeder Pfennig dreimal umgedreht werden musste, hatte Dalli nun genügend Geld zur Verfügung. Nicht nur für sich, sondern auch für ihre Kinder, denen sie Standesdünkel und Vorurteile abgewöhnen wollte, was jedoch bei der Einmischung der Schwiegermutter nicht so einfach war, wie Dalli es sich dachte. Doch sie gab niemals auf.
"Walzer .... Walzer hätt' ich auch gekonnt."
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