"Allerhand auf Immenhof"

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Andrea1984
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Kapitel 481

Beitrag von Andrea1984 »

Verschwommen nahm Dick ihre Umgebung war, blinzelte ein paar Mal und blickte dann um sich. Wie spät war es? Wie kam sie in das Gästezimmer? Und warum roch es so gut nach Essen?
Jemand klopfte an der Türe. Dick nahm Haltung an, wie man es sie gelehrt hatte.
„Herein.“
„Ich soll dir sagen, dass das Essen serviert worden ist. Allerdings werden nicht alle Gäste zeitgleich zu Tisch gehen können, weil zu wenig Platz ist. Wir haben daher ausgelost, wer nun an der Reihe ist.“, meinte Rafe, während er eintrat. „Du hast aber lange geschlafen. Es ist schon spät.“
„Ich bin so müde gewesen. Überarbeitet.“, antwortete Dick ausweichend.
„Du bist in der zweiten Gruppe dran. Jetzt wird noch die erste Gruppe versorgt. Das Essen ist reichlich, du brauchst also weder an den Kartoffeln, noch am Fleisch oder am Salat sparen.“
Dick gähnte, hielt sich die Hand vor den Mund, gähnte wieder.
„Wo ist Henny? Darf sie schon aufstehen?“
„Noch nicht. Sie hält sich immer noch in unserem Schlafzimmer auf, wo sie Jakob versorgt. Ich bin gerade dabei gewesen, wie sie ihn gestillt hat. Es ist wunderschön, ein Kind zu haben.“
„Nicht irgendein Kind …“, korrigierte Dick sanft. „…sondern das eigene. In diesem Fall kommt auch hinzu, dass Jakob eine starke Last auf seinen schmalen Schultern tragen wird, weil er der Erbe des Immenhofs ist. Du weisst, was das bedeutet.“
„Darüber machen Henny und ich uns noch keine Gedanken.“, antwortete Rafe ruhig.
„Etwas weniger Leichtigkeit täte dir gut. Wieso sitzt deine Krawatte schief?“
Rafe trat vor den Spiegel, lockerte die Krawatte, knüpfte sie dann neu: „Besser?“
„Viel besser. Du wirst es nie lernen, wie man eine Krawatte richtig bindet. Genau wie dein Vater.“

Dick ging nach unten ins Esszimmer, wo der Tisch für sieben Personen gedeckt war. Gerade brachte Stine einen Krug mit frischem Waser, stellte ihn auf den Tisch. Dick war neugierig, wer bei der Mahlzeit noch zugange sein würde. Wenige Minuten später saß eine bunt zusammengewürfelte Gruppe am Esstisch, lachte und schwatzte durcheinander. Dick hatte, als Älteste dieser Gruppe den Tischvorsitz inne, was ihr jedoch überhaupt nicht recht wäre. Ihr wäre ein Platz an der Längsseite lieber gewesen. Hätte sie die Verlosung nicht verschlafen, so hätte sie den Platz aussuchen können.

Dick kam nur wenig zu Wort, überließ das Reden lieber der jüngeren Generation, die nur selten auf dem Immenhof war und daher jeder Veränderung sofort registrierte. Besonders Patrick, der ältere Sohn von Bobby und Hasso, gab seine Meinung dazu laut und deutlich kund. Patrick war für seine 14, beinahe 15, Jahre sehr groß, so dass er Dick bei weitem überragte. Ihr kam es seltsam vor, zu ihrem - ja was, Großneffen - aufsehen zu müssen. Patrick aß auch wie ein Scheunendrescher, wobei Dick nicht feststellen konnte, ob es daran lagt, dass er sich körperlich verausgabt hatte oder einfach nur an dem gesunden Appetit, der in diesem Alter durchaus nichts ungewöhnliches war.

Stine eilte immer wieder von der Küche zum Esszimmer, brachte Getränke oder was auch immer angefordert wurde. Dick sah es mit leichtem Unbehagen, schwieg jedoch um die fröhliche Stimmung nicht zu zerstören.
„Darf man hier eine Zigarette rauchen?“, wollte Patrick wissen.
„Das musst du Rafe fragen. Er ist der Hausherr.“, zog sich Dick mit dieser Antwort aus der Affäre. „Bist du nicht etwas zu jung dafür?“
„Ich möchte es einfach nur mal ausprobieren, weiter nichts. Alle meine Freunde rauchen.“
„Wärst du mein Sohn, würde ich dir die Ohren für diese Frage langziehen.“, seufzte Billy, die gegenüber von Patrick, an Dicks linker Seite Platz genommen hatte.
Etwas lag in ihrem Tonfall, dass Patrick zum Verstummen brachte. Oder waren ihm einfach nur die Argumente ausgegangen?

„Wer weiß, was ich mit meinen Söhnen in der Zukunft so alles erleben werde.“, murmelte Billy, so dass nur Dick es hören konnte. „Vermutlich wird die Frage nach dem Rauchen oder dem Trinken von Alkohol noch eine der harmloseren Fragen sein.“
„Kinder und Jugendliche möchten ihre Grenzen austesten. Das ist doch ganz natürlich.“, meinte Dick, während sie sich noch etwas von dem Salat auftat, der direkt vor ihrer Nase auf dem Tisch stand.
„Ich weiß. Irgendwie ist das ein bedeutungsvoller Unterschied, ob ich ein sorgloses Kind oder ein verantwortungsvoller Erwachsener bin.“
Dick wechselte das Thema, wollte wissen, wo Heinrich saß.
„Er hat schon gegessen. Wie ich ihn zuletzt gesehen habe, ist er auf dem Weg zum Wohnzimmer gewesen, wo sich unter anderem Bobby, Ole und Ludwig aufhalten.“
„Soviele Leute hier. Da hat Stine ganz schön etwas zu arbeiten. Wird ihr das nicht anstrengend?“
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Andrea1984
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Kapitel 482

Beitrag von Andrea1984 »

„Stine möchte es so haben. Sie hat vorhin, wie du noch geschlafen hast, beinahe mit Ole gestritten, weil er auch am Tisch sitzt und sich bedienen lässt, anstatt bei ihr in der Küche zu essen.“
„Ich verstehe es immer noch nicht, warum Stine, als einzige, arbeitet.“
„Sie möchte das offenbar so haben. Keine Ahnung, warum das so ist. Ich habe mir darüber nie den Kopf zerbrochen. Vielleicht weiß Vati mehr darüber.“, Billy hob und senkte die Schultern, wandte sich dann wieder dem Essen zu. Auch sie griff tüchtig zu, so dass Dick vermutete, Billy wäre eventuell wieder schwanger. Heinrich schien sie offenbar ganz schön zu fordern, wenn es denn stimmte.

Dick ließ ihre Blicke unauffällig über den Tisch schweifen, fixierte die anderen Personen der Gruppe. Hasso, Sophie, Alexander, Rafe und Marion.
„Die Idee mit der Verlosung gefällt mir. Wer darauf wohl gekommen ist? Ich werde Rafe später auf den Zahn fühlen. Doch vorerst hat mein Sohn mit seinen Pflichten als Hausherr genug zu tun.“
Dick stellte fest, dass sich Rafe in dieser Position gut eingelebt hatte.

Nach dem Abendessen wollte Dick sich wieder zurückziehen, aber sie hatte keine Gelegenheit dazu. Also ging sie in die Küche, um vielleicht Stine zu helfen, doch diese lehnte höflich ab.
„Die Arbeit ist zuviel für dich. Ruh dich aus.“
„Danke, gnädige Frau, ich komme schon zurecht.“
„Wenn wirklich Not am Mann ist, kommen einige der Tagelöhner oder deren Frauen als Hilfe.“, hörte Dick die Stimme ihres Sohnes. „Mach dir also keine Sorgen, Mutter. Es ist alles in Ordnung.“
„Wohin darf ich gehen?“
„Überall hin, außer in das Schlafzimmer von Henny und mir. Jakob schläft jetzt. Zumindest hoffe ich das .Und Henny möchte auch lieber ihre Ruhe haben. Mach es dir doch in unserem Wohnzimmer gemütlich. Oder hast du Angst, von einem der Bücherregale erschlagen oder einer der Pflanzen erwürgt zu werden?“
Dick drehte sich um, blickte zu Rafe hinauf, der beinahe 2 Meter groß war: „Davor habe ich keine Angst. Wirklich nicht.“
„Im unteren Wohnzimmer und im Esszimmer sind schon alle Plätze belegt. Billy versorgt ihre jüngsten Kinder in einem der anderen Gästezimmer. Das hat mir Bobby vorhin berichtet.“

Rafe ging hinüber zu der Treppe, stellte sich auf die Stufe und verkündete etwas, so laut, dass es jeder hören konnte. Wer Interesse habe, könne sich gerne die Füße bei einem Spaziergang vertreten. Für Beleuchung sei in Form von Fackeln und Laternen gesorgt. Im nächsten Augenblick brachen die anwesenden Jugendlichen, darunter besonders Bobbys und Hassos Nachkommen, in freudige Rufe aus. Dick überlegte eine Weile, sagte schließlich doch zu. In der Stube wurde es ihr allmählich zu warm. Frische Luft würde ihre bestimmt gut tun. Dick holte ihre Jacke, ihre Mütze und warme Stiefel.

Jemand hatte Fackeln organisiert, drückte auch ihr eine in die Hand. Dick murmelte etwas, dass wie ein „Danke“ klang, doch eine Antwort blieb aus.
„Alles mir nach.“, erklangt die Stimme des Hausherren. „Wir gehen hinunter zum See und dann wieder zurück. Ihr braucht keine Angst zu haben.“
„Das will ich auch hoffen.“, brummelte Dick. „Vergisss nicht, es sind auch Kinder und Jugendliche mit dabei.“
Eine Weile ging Dick in der Gruppe mit, ohne genau zu erkennen, wer nun aller dazu gehörte. Langsam versperrte ihr nicht nur die Dunkelheit, sondern auch der Schneefall die Sicht. Im Dunkeln sah alles gleich aus. Dick verlor jeden Sinn für Orientierung, tastete nach der erstbesten Hand.

„Huch. Jetzt hast du mich aber erschreckt. Ich dachte, es wäre ein Bär.“
„Der würde dich wohl kaum so sanft angreifen, wie ich es tue.“, antwortete Dick erleichtert, als sie im Licht der Fackel eindeutig Ralfs Gesichtszüge erkennen konnte. „Frierst du nicht?“
„Ich habe doch einen warmen Mantel an. Außerdem empfinde ich es nicht als so kalt.“

Nach dem Spaziergang gab es für jeden, der daran teilgenommen hatte, eine Tasse warmem Kakao. Kakao durften auch Kinder trinken, ohne dass er ihnen gesundheitlich schadete. Dick hatte seit vielen Jahren keinen mehr getrunken, nahm das wärmende Getränk dankbar an. Ihre Finger, die von der Kälte fast taub geworden waren, kribbelten, was ein gutes Zeichen war. Dick schnupperte. Es roch nach frischem Holz. Tatsächlich. Der Kamin im unteren Wohnzimmer war eingeheizt worden.
Das Holz knackte. Der Geruch von Holz mischte sich mit dem von Tannennadeln und Harz.
Zum ersten Mal, seit langer Zeit, empfand Dick wieder so etwas wie Wärme und Geborgenheit. Sie gestand es sich ein, dieses Gefühl vermisst zu haben und wie. Dick seufzte, diesmal vor Freude.
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Kapitel 483

Beitrag von Andrea1984 »

Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück huschte Dick leise über den Flur, um niemanden aufzuwecken. Immer noch lag der Geruch von Kakao, welcher sich mit dem von frischem Holz mischte, in der Luft, obwohl der Kamin inzwischen kalt war. Dick hielt inne. Nanu? Warum knackte der Fußboden? Gab es hier etwa Mäuse oder Ratten? Oder war Molly einfach nur unterwegs?
„Nanu. Du bist schon wach.“, staunte Dick, als sie Billy gegenüberstand.
„Meine Blase treibt mich dazu. Ich habe gestern wohl zuviele Kekse genascht.“, antwortete Billy hastig und verschwand hinter der Türe, die zur Toilette führte.
Dick wartete, bis Billy wiederkam, trat näher an sie heran, musterte sie von oben bis unten.
„Was schaust du so? Gefällt dir die Farbe meines Nachthemdes nicht? Ich mag blau gerne.“
„Das Nachthemd ist ein wenig eng. Hast du es in der falschen Größe gekauft?“
„Ach so, das meinst du. Naja, lange werde ich es nicht mehr verbergen können. Komm, wir gehen hinunter in das alte Wohnzimmer, dort ist es ruhig. Selbst Stine schläft noch, die treue Seele.“

Erst dort ergriff Dick wieder das Wort, verriet nun, woher sie ihren Verdacht gehabt hatte.
„Ich habe wohl einen fruchtbaren Leib.“, Billy zuckte mit den Schultern. „Nun ja, ich brauche mich nicht zu beklagen. Wahrscheinlich hat mein Unterbewusstsein mir diesen Floh von einer großen Kinderschar ins Ohr gesetzt und führt diesen aus, ohne dass ich etwas dafür kann.“
„Ins Ohr. So so. Das ist wohl die falsche Körperstelle.“, wagte Dick einen Scherz.
Billy hielt sich die Hand vor den Mund. War ihr schlecht oder unterdrückte sie das Lachen?
„Alles in Ordnung. Mir geht es gut. Wirklich. In dieser Schwangerschaft habe ich Gelüste auf Süßes aller Art. Ich weiß nicht, woher das kommt. Dabei nasche ich sonst nur ab und an etwas davon.“
„Wie weit bist du ?“
„In der 14. Woche. Ende Juni soll es soweit sein. Jetzt ergeht es mir genau wie Bobby damals.“
„Wie das?“, Dick verstand nur Bahnhof.
„Du weisst ja, wann und wie Bobby und Hasso geheiratet haben.“
„Äh ja..“, stammelte Dick, sichtlich aus der Fassung gebracht.
Billy, die neben ihr auf dem Sofa saß, plauderte weiter: „Marion ist ein Geschenk zum Hochzeitstag gewesen. Ich werde also auch den Hochzeitstag im hochschwangeren Zustand verbringen.“
„Zuvor wirst du noch viel Arbeit haben.“
„Meinst du, wegen der vielen Geburtstag, die im Jänner stattfinden? Heinrich hat im Februar seinen Ehrentag.“

Eine Weile plauderten Dick und Billy über ihre Familien, über die Ruhe und die idyllische Zeit.
„Ich bin schon gespannt, wie es Henny und Rafe mit dem kleinen Jakob ergehen wird.“
„Vielleicht holt sich Henny ja den einen oder den anderen Tipp von dir. In der Erziehung von Jungs hast du ja inzwischen schon reichlich Erfahrung gesammelt.“
„Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage: Ab und zu bin ich schon froh, die Kinder, wenn sie zu anstrengend werden, dem Personal zu überlassen.“, Billy legte eine Hand auf ihre leichte Wölbung.
„Ihr könnt es euch ja leisten. Macht euch keine Sorgen. Wie geht es eigentlich Ethelbert?“
„Dem geht’s gut. Zumindest ist es ihm noch am Heiligen Abend so gegangen. Nathalie kümmert sich um ihn oder er um sie, je nach dem. Ach, ehe ich es vergesse: Ethelbert hat mir einen Brief für dich mitgegeben. Er sagt, er hätte ihn eigentlich mit der Post schicken wollen, aber darauf vergessen.“
„Das sieht Ethelbert ähnlich.“, schmunzelte Dick. „Er hat sich, in all den Jahren kaum verändert.“

Die Ruhe wurde durch das Getrappel einiger Füße und das Poltern in einem der Nebenzimmer unterbrochen. Dick versprach Billy, niemandem etwas zu verraten, es sei denn, Billy wollte es selbst tun.
„Bobby weiß auch schon Bescheid. Vor ihr kann ich es nicht verbergen. Den anderen sage ich es heute, vielleicht beim Frühstück oder beim Mittagessen, wie es zeitlich besser passt.“
Nach dem Frühstück zog sich Dick zurück oder wollte es, um den Brief, den Billy ihr gegeben hatte, zu lesen. Aber daraus wurde nichts. Ständig rief jemand nach Dick, brauchte ihre Hilfe oder einfach nur ihre Gesellschaft, sei es zum Reden oder zum Zuhören. Dick kam kaum dazu, ruhig zu atmen.

Unauffällig stahl sie sich durch die Küchentüre nach draußen, atmete die frische Luft ein.
„Schnell weg hier, bevor mich jemand sieht und wieder nach mir ruft. Ich bin alt, brauche meine Ruhe.“
Dick steckte den Brief, den sie in den Händen gehalten hatte, in die Manteltasche, schlug den Kragen hoch, blickte gen Himmel, ob das Wetter aushalten würde und schlich sich dann leise davon. Zuerst schlenderte Dick ein wenig durch den Forst, dann hinunter zum See und zuguter letzt zum Friedhof.
Eigentlich hatte sie gehofft, dort alleine sein zu können, aber ihr Wunsch wurde nicht erhört.
Jemand stand am Familiengrab, hatte den Blick gesenkt und murmelte etwas vor sich hin.
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Kapitel 484

Beitrag von Andrea1984 »

„Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst in Hamburg!“, rief Dick erstaunt aus.
Die Gestalt drehte sich um. Es war Henning, fein gekleidet, wie es sich gehörte.
„Da bin ich auch gewesen, vor allem, um deine Schwester zu trösten, die sich darüber beklagt, wie „gemein“ doch alle zu ihr sind. Auch einige Geschäfte habe ich dort zu erledigen gehabt.“
„Wo ist Dalli jetzt?“, wollte Dick, rein aus Höflichkeit, wissen.
„In der Wohnung. Jedenfalls habe ich Brigitte zuletzt dort gesehen, als ich weggefahren bin.“
„Nicht, dass deine Wohnung inzwischen zu einem Schweinestall mutiert, wenn Dalli andere Leute einlädt und dort eine Party nach der anderen feiert.“
Um Hennings Mundwinkel zuckte es: „Das traue ich ihr nicht zu. Und wenn es so wäre, so müsste Brigitte dafür gerade stehen, ein etwaiges Chaos zu beseitigen. Ich hafte nicht für sie.“
„Langsam wird es Zeit, dass Dalli auf eigenen Füßen steht.“, Dick rieb ihre Hände aneinander, um sie zu wärmen. „Hast du schon Pläne für das nächste Jahr geschmiedet?“
„Ich werde viel auf Reisen gehen, weil es mein Beruf ist. Ob Brigitte mich dabei begleiten wird, weiß ich noch nicht. Aber ich nehme es an. Was soll sie denn auch sonst unternehmen? In der Wohnung sitzen und Trübsal blasen? Das ist nicht ihre Art. Brigitte will gerne unter Menschen sein.“
„Meinst du damit, auch unter ihrer Familie?“, hakte Dick nach.
„Wenn du willst, können wir gerne in Ruhe darüber reden. Allerdings nicht hier. Langsam wird es mir zu kalt. Weißt du vielleicht einen ruhigen Ort, an dem uns keiner stört oder vielmehr kein Unbefugter mithören kann?“
Dick blieb kurz am Grab stehen, betete, atmete tief durch: „So wir können gehen. Ich bin bereit.“

Der Weg führte auf den Immenhof zurück, allerdings nicht zu dem Hauptgebäude, sondern zu einer Scheune. Dick wusste, dass jene um diese Jahreszeit nur halb mit Heu gefüllt war. Tatsächlich.
„So, hier sind wir ungestört. Und warm ist es auch.“
„Das stimmt.“, Henning legte seinen Mantel und seinen Schal ab.
„Wie geht es Anna? Hast du in der letzten Zeit etwas von ihr gehört? Dalli steht mit ihr in Kontakt?“
„Wir haben dieser Tage kurz mit einander telephoniert, also Anna und ich. Genauer: Anna hat angerufen, mit mir ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht und dann gebeten, mit Brigitte reden zu dürfen. Die ist aber leider in diesem Moment nicht da gewesen. Anna wird vielleicht später noch einmal angerufen haben. Sie hat gemeint, es wäre sehr dringend und sehr persönlich.“
„Meine Tochter fällt mir in den Rücken.“, Dick ballte die Hände zu Fäusten, entspannte sie wieder.
„Was willst du tun? Anna ist erwachsen. Sie hat gelernt, Verantwortung zu tragen.“
„Anders als Dalli, ganz bestimmt. Unter anderem bezogen auf die Familie. Wer hätte gedacht, dass Anna einmal Mutter von drei Kindern und vielleicht noch einigen mehr sein wird? Ich hätte ihr das nicht zugetraut.“

Dick machte es sich auf einem der niedrigen Heuballen bequem, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Henning lehnte sich an die Wand, kramte in seiner Manteltasche nach etwas.
„Möchtest du rauchen?“, Dick hatte fast immer ein Feuerzeug dabei, bot Henning Feuer an. Anschließend steckte sie sich auch selbst eine Zigarette an, weil ihr danach zumute war.
Die Türe zur Scheune stand einen Spaltbreit offen, damit nichts geschehen konnte. Dick achtete sorgfältig darauf, die Zigarette schnell zu rauchen und dann, weit weg von den Heuballen auszudämpfen. Henning verhielt sich ebenso.
„Ich gehe dann wieder zu den anderen hinein. Bestimmt braucht jemand meine Hilfe.“
„Darf ich mitkommen?“, wollte Henning wissen.
„Das habe nicht ich zu entscheiden. Rafe ist hier der Besitzer. Er alleine hat das Sagen.“

Dick hätte Henning zu gerne nach drinnen mitgenommen und ihm vielleicht auch etwas zu essen oder zu trinken angeboten. Aber die Entscheidung darüber oblag nicht ihr.
„Ich werde schnell hineingehen und Rafe danach fragen. Warte bitte solange hier.“
Dick hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, als sie Henning alleine ließ. Doch es musste sein.

Erst nach langem Suchen stöberte Dick ihren Sohn, der sich gerade im Esszimmer aufhielt, auf, brachte ihre Bitte, in einem gedämpften Tonfall, damit nicht alle Gäste mithören konnten, vor.
„Das Haus platzt beinahe aus allen Nähten. Wie stellst du dir das vor, noch einen Gast hier unterzubringen?“
„Es ist ja nur eine Frage gewesen, weiter nichts.“, lenkte Dick ein.
„Ich werde mit Henny reden. Sie hat das Recht zu erfahren, was hier vor sich geht.“
„Du machst es dir wirklich zu einfach, in dem du die Verantwortung abschiebst, sozusagen.“
„Henny und ich sind gleichberechtigte Partner hier.“, behielt Rafe nachdrücklich das letzte Wort.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Fr 15.Nov.2019 19:46, insgesamt 1-mal geändert.
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Kapitel 485

Beitrag von Andrea1984 »

Eine halbe Stunde später stand die Entscheidung fest: Henning durfte bleiben. Dick wusste nicht, ob er das nun Henny oder Rafe oder der Tatsache, dass Billy und ihre Familie noch am selben Tag abreisten, da sie einen weiten Weg vor sich hatten, zu verdanken hatte. Dick stellte keine Fragen, um ihren Besucherstatus nicht zu gefährden. Auch sie war nur ein Gast und musste tun, was Rafe ihr befahl. An diesem Tag kam Dick diese Tatsache zum ersten Mal so richtig zu Bewusstsein.

Kurz nach dem Mittagessen gelang es Dick, mit Billy noch einige Worte zu wechseln und ihr, etwas vorzeitig, ein gutes neues Jahr zu wünschen.
„Gib auf dich acht.“
„Das werde ich. Mein Mann ist Arzt, er kann mich behandeln, wenn es mir wirklich schlechter gehen sollte. Mit der Zeit weiß mein Körper schon, was bei einer Schwangerschaft zu tun ist und was nicht.“
Dick stand auf dem Balkon und winkte Billy, Heinrich und den Kindern von oben nach, solange bis das Auto den Hof verlassen hatte und außer Sichtweite war.

„Ein blauer VW-Bus. Was für ein Luxus.“, seufzte jemand. Dick drehte sich um.
„Was sollen die beiden sonst anders fahren? In ein normales Auto passt die große Familie nicht mehr hinein.“
„Hasso und ich spekulieren auch damit, uns so einen Bus zu kaufen, aber wir haben kein Geld.“
„Höre ich da etwa Neid heraus?“
„Nur nicht. Ich bin vollauf zufrieden, mit dem Leben, dass Hasso und ich führen.“
„Ehrlich oder sagst du das nur auf Höflichkeit?“, hakte Dick nach. „Komm, lass uns wieder nach drinnen gehen. Billy und Heinrich und die Kinder sind längst weg.“
„Unsere drei Großen sind mit dem Zug von Hamburg hierher gefahren und werden auch auf diese Weise wieder zurückgelangen. Unsere drei Kleinen haben wir im Auto mitgenommen. Es ist zwar etwas eng, doch was bleibt uns auch anderes übrig. Wie gut, dass der Altersunterschied zu dem nächsten Baby schon einige Jahre betragen wird, sonst hätten wir die Kleinen auf der Dachgalerie festbinden müssen.“

Drinnen schlug Dick vor, sich doch ein wenig zu zurückzuziehen, doch viele Räume waren schon besetzt. Lediglich im oberen Wohnzimmer hielt sich niemand auf. Das Feuer brannte im Kamin.
„Eigentlich ist dieses Baby ja gar nicht geplant gewesen. Doch wegmachen kann und will ich es nicht.“, Bobby setzte sich auf die breite Fensterbank, neben zwei dichte, grüne Pflanzen.
„Billy ist fest davon überzeugt gewesen, dass Anja dein letztes Kind bleiben wird.“
„Tja, sie hat sich geirrt. Es soll ja vorkommen. Setz dich zu mir. Die Fensterbank ist breit genug.“

„Henny und Rafe haben es sich hier recht nett eingerichtet.“, wechselte Dick elegant das Thema. Sie wunderte sich darüber, dass Bobby etwas kühl über Billy redete, ja sogar hinter ihrem Rücken von ihr sprach. Das war doch ein sehr untypisches Verhalten. Dick kannte die Zwillinge so gar nicht.
„Das stimmt. Ich bin von dem Geschmack der beiden positiv überrascht. Eines wundert mich: Woher haben die beiden das Geld, um sich die Einrichtung leisten zu können? Oder haben sie alles auf Ratenzahlung gekauft?“
Dick gab zu, es auch nicht zu wissen und verriet, dass ihr Geld nicht so wichtig sei.
„Jedenfalls nicht mehr so wichtig, wie früher, als ich noch jung gewesen bin.“
„Tu nicht so, wie wenn du so alt wärst.“, wieder dieser muntere Tonfall.
„Ich habe den Großteil meines Lebens bereits gelebt. Die Arbeit fällt mir schwerer als früher.“, verriet Dick. Nur selten kam es vor, dass sie so offen über alles sprach, was sie bewegte. Schon gar nicht mit Bobby, der sie weniger nahe als Billy stand, obwohl sie sich bemühte, beide gleich zu behandeln.

„Wenn du so jammerst, was soll da erst Herr Hallgarten sagen, der doch um einiges älter ist.“
„Stimmt, an ihm kann ich mir ein Vorbild nehmen. Er beklagt sich nie, was immer auch sein mag.“
„Ich bin vorhin beim Essen neben ihm gesessen und habe nur wenig mit ihm geredet.“
„Du brauchst keine Angst haben: Onkel Pankraz tut dir nichts. Hat Billy auch mit ihm Kontakt gehabt?“
„Keine Ahnung. Da bin ich überfragt. Ich werde sie anrufen und danach fragen. Mit dem Handy ist das ja möglich. Allerdings schläft sie oft, besonders in diesem Fall, wenn die Autofahrt lange dauert.“
„Wie lange könnt oder vielmehr dürft ihr hier bleiben?“
„Wir sind zeitlich unabhängig, da Hasso einige Tage frei hat. Theoretisch könnten wir bis zum Jahreswechsel hier bleiben. Praktisch möchten wir Rafes und Hennys Gastfreundschaft nicht übermäßig belasten und daher vielleicht auch schon heute oder eventuell morgen abreisen.“
„Ein Gegenbesuch ist geplant?“
„Natürlich. Wobei es Rafe und Henny deutlich leichter haben, Hasso und mich zu besuchen, als Billy und Heinrich, die ja am anderen Ende des Landes leben und arbeiten.“, wieder seufzte Bobby auf.
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Kapitel 486

Beitrag von Andrea1984 »

„Nanu? Was ist denn heute mit dir los? Fühlst du dich nicht wohl?“
„Billy geht mir ab, obwohl wir doch gerade mal für wenige Minuten getrennt sind.“
„Du ihr vermutlich auch.“, ergänzte Dick. „Das ist normal. Anders als gewöhnliche Schwestern steht ihr euch nahe, zu nahe. Stimmt es, was ich gelesen habe: Wenn es einem Zwilling schlecht geht, fühlt der andere das mit?“
„Es ist was wahres dran.“, Bobby lächelte. „Billy und ich haben das schon oft erlebt. Zum Beispiel bei einer Klassenfahrt nach London (1) . Das ist nun schon 21 Jahre her.“
„Erzähl mir mehr davon.“
„Wenn du unbedingt willst. So spektakulär ist die ganze Sache nun auch wieder nicht gewesen.“

Dick hörte geduldig zu, wie Bobby ihr alles berichtete und verschwieg taktvoll, selbst keine Klassenfahrt erlebt zu haben, weil es damals einfach noch nicht möglich gewesen sei.
„Vati ist dieser Tage traurig, weil doch der Todestag seines Vaters morgen ist.“, nun war es Bobby, die das Thema wechselte.
„Davon hat Alexander mir nie erzählt.“, gab Dick offen zu.
„Naja, so wichtig ist es auch wieder nicht, dass Vati damit hausieren geht. Er hat Billy und mir irgendwann einmal davon berichtet, als wir danach gefragt haben, warum es zu Großmamá keinen Großpapá gibt. Großmamá zu fragen hätten wir uns nie getraut. Wenn sie darüber geredet hat, dann mit Vati unter vier Augen, aber sicher nicht vor uns Kindern.“
„Ich habe auch meine Großväter nie kennengelernt. Opa Jantzen liegt hier auf dem Friedhof begraben. Was aus den Eltern meines Vaters geworden ist, weiß ich nicht.“
„Vielleicht sind sie noch am Leben?“
„Das glaube ich wohl kaum. Da müssten sie schon über 100 Jahre alt sein. Nicht jeder Mensch hat so gute Gene wie mein Schwiegervater.“
„Meiner vielleicht. Er ist noch rüstig und unternimmt mit Patrick und Walter vieles. Natürlich müssen die Jungs auch im Haushalt mithelfen, wie es sich gehört. Ob sie es immer tun, oder ob er ihnen alles durchgehen lässt, weiß ich nicht. Mein Schwiegervater meint, es gefällt ihm, gebraucht zu werden.“

Der Nachmittag verging wie im Flug. Erst nach dem Abendessen konnte Dick etwas Ruhe haben und den Brief, welchen Ethelbert ihr geschrieben hatte, durchlesen. Dick war überrascht, dass Ethelbert noch Briefe schrieb und nahm an, er stand mit der modernen Technik ebenso auf Kriegsfuß.
Der lange Brief schien ihr recht zu geben. Ethelbert hatte eine schöne und klare Schrift, die sich gut lesen ließ. Dick suchte Rafe auf, um ihn zu bitten, das Telephon benützen zu dürfen. Diese Bitte wurde ihr gewährt. Dick rief Ethelbert an, um sich bei ihm für den Brief zu bedanken.

„Die Botin ist schon auf dem Weg zu dir.“
„Das freut mich, dass alles so reibungslos geklappt hat. Nathalie und ich gönnen uns einige Tage Urlaub, ehe wir im neuen Jahr mit neuen Kräften wieder durchstarten werden.“
„Die Ruhe habt ihr euch verdient. Ich muss Schluss machen. Telephonieren ist teuer.“
„Ich weiß. Und es ist ja auch nicht dein Apparat. Schöne Grüße an deine Familie.“
„Richte ich aus.“, Dick plauderte noch ein wenig, hörte zu was Ethelbert zu sagen hatte und beendete dann das Gespräch, obwohl es, wie sie später von Rafe erfuhr, am Abend billiger zu telephonieren war.

Am nächsten Tag leerte sich der Immenhof deutlich. Bobby, Hasso und die Kinder reisten ab. Auch Pankraz und Johanna wollten schon aufbrechen, doch Rafe bat sie, zu bleiben.
„Auf uns wartet viel Arbeit. Wir können das Haus und die Weingärten nicht so lange alleine lassen.“
„Es hat uns hier sehr gut gefallen, wirklich. Wir kommen jederzeit gerne wieder zu Besuch.“, ergänzte Johanna.

Dick hörte das Gespräch mit und fühlte sich erleichtert darüber, dass Pankraz der Trubel nicht zuviel geworden war, wie sie vermutete, sondern dass es einfach nur an der Arbeit lag, die auf ihn wartete.
Ralf meinte, ihm sei es egal, ob er hier oder in Eltville zeichne. Motive fände er genug und er habe schon zwei Skizzenblöcke voll. Wenn es recht sei, wolle er gerne bis Silvester hier bleiben.
„Das wollte ich euch gerade anbieten. Da sind wir uns also einig.“, Rafe stand mit stolzgeschwellter Brust an der Türschwelle, um Pankraz und Johanna die Türe aufzuhalten, wie es sich gehörte.
„Reisende soll man nicht aufhalten.“
„Wir rufen an, wenn wir wieder in Eltville angekommen sind.“, versprach Pankraz, reichte Rafe die Hand. „Das mit dem Immenhof habt ihr prima hinbekommen. Ich bin stolz auf Henny und dich.“

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(1) Details zu der Klassenfahrt folgen in: „Das Erbe des Immenhofs“.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Do 10.Mai.2018 23:07, insgesamt 2-mal geändert.
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Kapitel 487

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Kaum waren Pankraz und Johanna abgereist, stand schon wieder jemand von der Türe. Diesmal war es Sigrid, die versicherte, sie wolle nur kurz da bleiben, um Alexander zu sehen und mit ihm zu plaudern. Die Kinder seien bei ihrem Vater. Allen gehe es gut, das sei die Hauptsache.
Dick hörte, wie Rafe Sigrid anbot, doch bei der Teestunde teilzunehmen. Es sei schon alles vorbetiet. Auf einen Gast mehr oder weniger, käme es nicht drauf an. Dick, die gerade auf dem oberen Treppenabsatz stand, hätte gerne noch mehr gehört, aber eine Türe klapperte.

„Nanu? Darfst du schon aufstehen?“
„Ob ich darf, weiß ich nicht, doch ich muss und wie.“, Henny eilte hinüber ins Badezimmer, kam zurück und meinte dann, dass sie sich freuen würde, wenn Sigrid zum Tee hierbleiben würde.
„Ich bin auch froh, wenn ich wieder aufstehen und meinen Pflichten als Hausfrau nachgehen kann.“
„Wirklich?“
„Ja. Ich glaube, ich bin die jüngste Hausfrau hier auf dem Immenhof.“
„Oh, das weiß ich gar nicht so genau. Die Chroniken habe ich in Eltville. Wenn du magst, schicke ich sie dir über den Postweg zu.“
„Das dauert doch viel zu lange. Was hältst du davon, die Chroniken einzuscannen und mir über E-Mail zu schicken?“
„Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen. Mit der modernen Technik geht alles viel einfacher.“
„Hörst du: Rafe ruft. Die Teestunde beginnt. Ich ziehe mir nur schnell was an, dann komme ich mit Jakob nach unten.“

Die Teestunde verlief entspannt, so zumindest empfand es Dick. Zum Tee gab es frischen Butterkuchen und Kekse, die noch von Weihnachten her übrig geblieben waren.
Dick war müde, ohne, dass sie sagen konnte, woher diese Müdigkeit kam. Aber sie nahm sich zusammen. Wenn Henny, die doch gerade erst aufgestanden war, mit am Tisch saß, dann konnte sie das auch. Vorwiegend bestritten Sigrid und Rafe die Unterhaltung, während sich Alexander und Henny nur wenig am Gespräch beteiligten. Ralf zeichnete, wie konnte es auch anders sein. Molly lag auf seinen Knieen und schnurrte wie eine Motorsäge. Dick nippte am Tee, knabberte am Kuchen.

Sigrid wandte sich Alexander zu: „Du weisst genau: Ich möchte noch ein Baby haben.“
„Dann such dir doch einen anderen Mann dafür.“, brummelte Alexander leise.
„Warum? Ich liebe nur dich.“
„Wie stellst du dir das vor? Wer soll sich um die großen Kinder kümmern? Dein Vater ist auch nicht mehr der jüngste und die Arbeit im Reisebüro wird nicht weniger. Schlag dir das aus dem Kopf.“
„So schnell gebe ich nicht auf. Das weisst du doch.“
„Oja, du kannst einen ganz schönen Dickkopf haben.“
„Lass es uns nur einmal noch versuchen: Einmal noch, bitte.
„Leise. Was sollen die anderen von uns denken?“
„Ralf malt und zeichnet doch nur, der bekommt doch gar nichts mit.“, wisperte Sigrid.

Dick belauschte das Gespräch unfreiwillig, da sie neben Alexander und vis a vis von Sigrid saß. Ralf war immer noch in das Zeichnen vertieft und hatte sich diesmal Molly als Modell ausgesucht.
Jakob lag in der Wiege, schlief friedlich, so kam es Dick zumindest vor.
Henny warf immer wieder einen Blick in seine Richtung.
„Es ist alles in Ordnung. Für mich sieht das jedenfalls so aus.“, dachte Dick. „Henny macht sich Sorgen, das ist nur allzu verständlich. Beim zweiten oder beim dritten Kind wird sie bestimmt entspannter als jetzt sein. Was macht sie jetzt? Ach, sie steht auf und nimmt Jakob aus der Wiege. Verständlich, er möchte nicht alleine sein. Die Gespräche hier stören ihn offenbar nicht. Henny hat schon recht, irgendwie: Die Geborgenheit in ihren Armen ist jetzt das wichtigste für ihn.“

Dick beobachtete auch, wie entspannt Henny wirkte, als ob sie ihr Lebtag lang nichts anderes getan hätte, als ein Baby - ihr Baby - in den Armen zu wiegen. Dabei hatte sie, soweit Dick Bescheid wusste, nie Gelegenheit zum Üben gehabt. Vermutlich war Henny einfach ein Naturtalent, was den Umgang mit Kindern anging. Ja auch so etwas gab es, davon war Dick felsenfest mehr als überzeugt.

Nach der Teestunde, plante Dick einen Spaziergang zu machen. Doch es war schon finster und sie hatte weder eine Taschenlampe, noch eine Stirnlampe. Eine Fackel wollte sie sich nicht leihen.
„Darf ich dich zum Forsthaus begleiten? Bist du mit dem Auto oder zu Fuß da?“
„Mit dem Auto natürlich. Wenn du willst, kannst du mich gerne begleiten, doch der Weg zurück im Dunkeln, das ist viel zu gefährlich für dich.“
„Dann gehen wir eben morgen am Vormittag miteinander spazieren, wenn du Zeit hast.“
„Ja, natürlich habe ich Zeit und freue mich schon sehr darauf.“, versicherte Sigrid fröhlich lächelnd.
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Kapitel 488

Beitrag von Andrea1984 »

Tatsächlich fand der Spaziergang statt. Dick und Sigrid waren an dem drittletzten Tag des Jahres 1994 beinahe alleine unterwegs. Lag es daran, dass viele Leute keine Zeit oder keine Muse zum Spazierengehen hatten? Oder am Wetter? Die Sonne stand zwar am Himmel, doch sie war viel zu schwach, um sich gegen die Wolken durchzusetzen. Dick hatte zuvor den Wetterbericht im Radio gehört: Es würde Regen oder Schnee geben, soviel war sicher.

„Ach was. Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unpassende Kleidung.“
„Da hast du recht. Ich muss mit dir reden. Am besten unter vier Augen.“
„So etwas habe ich mir beinahe gedacht.“, Dick blieb stehen, lockerte ihren rechten Stiefel, zog ihn kurz aus, kramte darin herum und fand einen Stein. „Der hat mich schon lange gedrückt.“
„Deshalb bist du so langsam gegangen, wie ein lahmendes Pony.“, neckte Sigrid.
Dick zog den Stiefel wieder an: „Nun was hast du auf dem Herzen? Ist etwas mit deinem Vater?“
„Dem geht es gut. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn.“, Sigrid atmete tief durch. Ihr Atem war in der Kälte deutlich zu erkennen. „Er ist nicht mehr der jüngste und sollte sich schonen.“
„Doch er will arbeiten und noch vieles andere tun, obwohl seine Kräfte kaum noch ausreichen.“
„Du sagst es. Wenn Vater von heute auf morgen sterben oder schwer erkranken würde, so wüsste ich nicht, was ich tun sollte. Eine Betreuung für die Kinder kann ich mir nicht leisten. Das Reisebüro ist eine gute Einnahmequelle. Noch vor den Weihnachtsfeiertagen hat mich ein Reporter der Lokalzeitung besucht und ein wenig interviewt, sowie Photos vom Laden geknipst. Dieser Tage müsste das Interview in der Lokalzeitung zu lesen sein, wenn ich mich nicht sehr irre.“

Dick begriff: Sigrid hatte niemanden zum Reden oder eher niemanden, der ihr zuhörte.
„Hast du schon mit Alexander darüber geredet?“
„Das schon. Aber er meint, es sei alles halb so schlimm, ich solle mich nicht so anstellen, ich sei doch eine starke Frau.“
„Typisch Mann. Alexander hat manchmal absolut kein Einfühlungsvermögen.“, Dick steckte die Hände noch tiefer in die Manteltaschen. Von Osten kam allmählich starker Wind auf. Da nützten auch die besten Handschuhe nichts.
„So kann man das nicht sagen. Er ist doch sonst verständnisvoll. Und genießt jetzt seinen Ruhestand. Zumindest habe ich diesen Eindruck, wenn ich Alexander auf dem Immenhof mal kurz besuche.“
„Vielleicht möchte er auch gerne arbeiten und ist ärgerlich, weil er es nicht mehr kann.“
„Das wäre eine Möglichkeit. Darauf wäre ich nie gekommen. Und nun?“

Dick brachte den Vorschlag ein, Alexander solle doch ins Forsthaus übersiedeln und dort kleinere Arbeiten im Haus und im Garten erledigen, sowie die Kinder betreuen.
„Die Idee wäre gut, aber mein Vater und Alexander vertragen sich nicht. Sie gehen respektvoll miteinander um, doch das ist schon alles. Zu einer innigen Beziehung zwischen den beiden wird es wohl nie kommen. Keine Ahnung, warum das so ist. Wenn die beiden Herren sich einmal streiten sollten, so würde ich zwischen allen Stühlen sitzen. Ich mag beide und möchte beide nicht verlieren.“

Dick zog die Hände wieder aus den Manteltaschen: „Gib mir deine Hand. Du kannst mir vertrauen. Ich werde mit niemandem darüber reden. Das ist es doch, was du möchtest.“
„Danke fürs Zuhören. Das tut sonst niemand.“, Sigrid schluckte leise auf. „Mit Bobby habe ich dieser Tage telephoniert, so ein bisschen geplaudert, aber keine Details über dieses Problem hier erzählt.“

„Wir sind doch Freundinnen. Da darf ich dir einen guten Rat geben.“
„Sicher. Ich bin für alles offen.“, versicherte Sigrid, deren Schritte schwer waren.
„Hör auf damit, Alexander ständig wegen eines weiteren Babys unter Druck zu setzen. Es bringt doch nichts mehr. Die Nachteile überwiegen gegenüber der Vorteile bei weitem. Lass es gut sein. Konzentriere dich auf deine Kinder, deinen Vater und die Arbeit und warte. Vielleicht hast du ja eines Tages Enkelkinder, die kannst du dann nach Strich und Faden verwöhnen.“
„Enkelkinder? Soweit plane ich nun nicht voraus. Aber du hast schon Recht: Ich soll wirklich lernen, loszulassen, mich nicht so zu verkrampfen.“

Dick und Sigrid schlenderten noch eine Weile Hand in Hand durch den Dodauer Forst. Überall lag schon dichter Schnee. Die Tiere hatten sich zum Winterschlaf in ihre Höhlen und Nester verkrochen.
Selbst die Pferde hatten bei diesem Wetter Pause. Die robusten Ponys standen auf der Winterweide, während die teuren Pferde im Stall versorgt worden.
„Lass uns umkehren. Es zieht immer mehr zu. Meine Kinder warten schon auf mich.“
Dick bat darum, ins Forsthaus mitgehen zu dürfen. Sigrid zögerte kurz, nickte dann mit dem Kopf.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Di 12.Sep.2017 23:35, insgesamt 1-mal geändert.
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Kapitel 489

Beitrag von Andrea1984 »

Seite an Seite eilten Dick und Sigrid ins Forsthaus. Ja eilten, da der angekündigte Sturm immer näher kam. Gerade noch rechtzeitig schafften es die beiden Frauen ins Haus. Dick wurde dort Sigrids Vater vorgestellt und lernte, bei dieser Gelegenheit, auch die Kinder kennen. Wobei man zum ältesten Paul eigentlich fast nicht mehr Kind sagen konnte: Er war doch schon beinahe 13 Jahre alt. Und rümpfte die Nase, als er seine Schwestern betrachtete, die gerade mit den Legosteinen spielten.
„Dafür bin ich schon viel zu groß. Aber Katja hat sich die Lego-Ritterburg nun mal gewünscht und auch bekommen. Wobei es ihr gar nicht so sehr um die Burg, sondern eher mehr um die Pferde geht.“
„Das ist ja interessant.“, antwortete Dick, ging hinüber zu den Mädchen, um sie nun zu begrüßen. Gleich von Anfang an wurde Dick in der Familie herzlich aufgenommen, duzte die Kinder und bat darum auch von ihnen geduzt zu werden. Lediglich mit Sigrids Vater wurde Dick zunächst nicht recht warm, doch sie machte sich darüber keine Gedanken. Entweder würde es noch weitere Besuche und Gegenbesuche geben, dann würde er schon auftauen oder trotz aller Kontakte eben nicht.

Das Auftauen kam schneller als Dick erwarten konnte. Sigrid zog sich in die Küche zurück, um das Mittagessen vorzubereiten. Dick rief auf dem Immenhof an, ja sie hatte ihr Handy mitgenommen. Alles war in Ordnung und sie bleibe noch eine Weile im Forsthaus, solange bis der Sturm vorbei sei. Rafe ging an den Apparat oder vielmehr an sein Handy. Auf dem Immenhof sei alles in Ordnung. Dick plauderte weiter, dass sie zum Mittagessen eingeladen worden sei. Stine brauche daher nur für fünf Personen kochen. Rafe versprach, er werde die Information sogleich weitergeben. Dick beendete hastig das Gespräch. Zum einen, weil es sonst zu teuer wurde, zum anderen weil der Empfang immer schlechter war, was vermutlich an dem Sturm liegen konnte.

Das notwendigste, darunter das Handy, den Hausschlüssel, die Geldbörse und eine Packung Taschentücher hatte Dick in ihrer Handtasche, die sie stets bei sich trug. Mit zitternden Fingern schaltete sie das Handy wieder ab. An dieses Gerät würde sie sich nie gewöhnen, beim besten Willen nicht.

„Die moderne Technik hat auch bei uns Einzug gehalten. Nicht nur hier, sondern auch im Reisebüro haben wir Handy und Computer mit Internet.“, meinte Sigrids Vater. „Ich selbst komme damit kaum zurecht. Sigrid tut sich da wesentlich einfacher. Ab und an lässt sie auch Paul an den Computer.“
„Die Mädchen sind wohl noch zu klein dafür.“, Dick wollte eigentlich nichts sagen, spürte aber, dass sie antworten musste. Das Gespräch fand im Esszimmer statt, während die Kinder im Wohnzimmer miteinander spielten.
„Das stimmt. Und sie haben auch noch kein Interesse daran. Ich freue mich, wenn ich die Kleinen so beobachte. Da fühle ich mich selbst wieder jünger, ich weiß nicht warum.“
Dick erfuhr, dass Sigrids Vater auch von Jakobs Existenz Bescheid wusste und mit ihm leide.
„Wie das? Er ist doch gesund, wächst und gedeiht, wie es ein Baby nicht besser könnte.“
„Da wird wohl schon alles in Ordnung sein. Das Geburtsdatum ist daran schuld. Ich teile es mit dem Kleinen.“
„Oh äh dann Alles Gute zum Geburtstag äh Frohe Weihnachten, wie auch immer.“, stammelte Dick, spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Seit Jahren war sie nich mehr so verlegen gewesen.
„Danke, für alles.“, antwortete Sigrids Vater, lächelte über beide Ohren. Dann nannte er seinen Vornamen - Friedrich - und bat darum, einfach „du“ zu sagen. Es sei doch alles viel leichter.
„Gern, wenn Sie äh wenn du es lieber magst.“, Dick wusste genau, was sie einem älteren Herren an Respekt schuldig war. Sie hatte es immerhin jahrelang geübt, unter anderem an Dr. Pudlich, Jochen, Anselm und Onkel Pankraz.

Zum Mittagessen gab es Ente mit Rotkohl. Ein typisches Feiertagsgericht, wie Dick von Friedrich erfuhr. Die Kinder bestritten die Unterhaltung, plauderten, was es in der Schule oder bei Freunden neues gab. Dick verriet nun, dass sie selbst einmal vor vielen Jahren hier im Forsthaus gewohnt hatte. Und wurde sogleich von den Kindern mit Fragen bestürmt: Warum? Wieso? Weshalb?
„Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst.“, ergriff Sigrid das Wort.
Dick schluckte kurz und erzählte dann. Allerdings nur eine geraffte Version, die auch für Kinderohren geeignet war. Vorerst gaben sich die Kinder mit dieser Erklärung zufrieden oder taten so als ob.

Nach dem Mittagessen bot Dick ihre Hilfe beim Abwaschen und Abtrocknen an. Sigrid meinte, es sei nicht nötig, sie habe doch einen Geschirrspüler, da passe viel hinein. Und den großen Topf, nun den können sie auch alleine abwaschen und abtrocknen, der mache doch kaum Arbeit. Dick schämte sich beinahe, Sigrid alleine in der Küche stehen zu lassen, doch sie war Gast und musste sich, bis zu einem gewissen Grad, an die Regeln der Hausfrau halten. Dick hörte, wie die Kinder laut riefen.
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Kapitel 490

Beitrag von Andrea1984 »

Bei den Spielen mit der Lego-Ritterburg und den anderen Lego-Figuren leistete sie ihnen Gesellschaft, in dem sie einfach nur zusah und die Mädchen dafür lobte, wenn sie ein Gebäude besonders gut aufgebaut hatten. Dick stellte fest, dass besonders Katja sich sehr geschickt darin zeigte, immer wieder etwas neues auszuprobieren. Anscheinend hatte sie viel Phantasie. Nina hingegen spielte zwar brav mit, dachte sich jedoch kaum eigene Ideen aus, was man mit den Pferden, den Figuren und den Legosteinen so alles anfangen konnte. Dora saß daneben, am großen Tisch, malte oder tat so als ob, aber wenn die Großen nicht genau hinsahen, war sie ihnen die halbaufgebauten Steine, die vermutlich ein Haus oder ein Stall darstellen sollten, einfach um. Verständlich, dass sich Katja und Nina das nicht gefallen lassen wollten. Wobei Katja ruhig blieb und die Steine einfach von neuem aufstapelte, als ob nichts gewesen wäre. Nina hingegen bekam einen Wutanfall, tobte wie das Rumpelstilzchen und hopste, wie ein Flummi, auf und ab.

Erst ein paar heftige Worte von Friedrich, Sigrid war offenbar noch immer in der Küche beschäftigt, brachte die Kinderschar wieder zur Räson. Paul verdrehte die Augen.
„Möchtest du, dass ich etwas mit dir unternehme? Vielleicht etwas basteln oder malen?“, schlug Dick vor.
Paul meinte, er müsse noch für die Schule lernen. Ob er sich denn zurückziehen dürfe?
Dick zog sich geschickt mit der Antwort aus der Affäre, das könne er nur seine Mutter oder seinen Großvater fragen.
„Wenn du willst, helfe ich dir bei den Schulaufgaben.“
„Nee, da muss ich alleine durch. Es geht um ein Referat. Ich habe den ersten Termin nach den Weihnachtsfeiertagen bekommen. Meine Freunde finden, es wäre unfair, wo ich doch mehr Zeit zum vorbereiten hätte. Aber das ist gar nicht wahr. Andere Jungs halten ihr Referat erst am Ende des Halbjahres.“
„Hast du dir das Thema oder den Termin aussuchen können oder hat das dein Lehrer oder deine Lehrerin festgelegt?“, wollte Dick wissen, während sie, gemeinsam mit Paul, zu Sigrid hinüberging.
„Ja und nein. Also Herr Döberlein hat uns die Themen vorgegeben, aber die Termine haben wir uns selbst aussuchen dürfen. Ich habe mich einfach für diesen entschieden, ohne lange darüber nachzudenken. So, nun habe ich den Salat und was für einen.“
Mit diesen Worten zog sich Paul in sein Zimmer zurück, schloss die Türe mit Nachdruck.

Dick stellte, beim Beobachten der Kinder, vieles fest. Vom Aussehen her kamen Paul und Dora ganz nach Sigrid, doch bei genauerem Hinsehen konnte sie auch einige Gesichtszüge von Alexander entdecken. Um Pauls Wangen und Kinn spross schon der erste Bartflaum. Dick war gespannt, ob sich Paul rasieren oder doch eher einen Bart wachsen lassen wollte. Vermutlich würde Paul mit seinem Großvater oder seinem Vater, wer nun gerade Zeit oder Interesse hatte, ein Männergespräch führen.

Katja und Nina hingegen waren beide brünett und schlugen auf diese Weise deutlich nach Alexander. Ja, er konnte seine Kinder einfach nicht verleugnen. Katja hatte glatte Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, während Nina krause Haare, beinahe schon Locken hatte. Wessen Gene waren wohl dafür verantwortlich? Dick wusste es nicht, konnte darüber nur spekulieren.
Genauso wie über das Motiv von Sigrid, noch ein weiteres Kind von Alexander bekommen zu wollen. Die Argumente dagegen überwogen doch bei weitem. Wollte Sigrid wirklich aus Trotz ihre Gesundheit und die ihrer Familie aufs Spiel setzen? Es waren ja nicht nur ihre Kinder, die an ihr hängen. Henny und Chrissy sprachen stets nur in den besten Tönen von ihr. Sigrid hatte offenbar einen Draht zu Kindern.

Am Nachmittag tobte der Sturm immer noch, so dass an eine Rückkehr auf den Immenhof vorerst nicht zu denken war. Dick hegte die vage Hoffnung, der Sturm möge abflauen und sandte ein Stoßgebet zu Himmel. Was sollte sie hier anfangen? Die Tageszeitung, die offen auf einem Beistelltisch herumlag oder ein Buch aus dem Regal zu nehmen und zu lesen, traute sie sich nicht.

Die Mädchen spielten immer noch mehr oder weniger friedlich miteinander. Paul saß, so nahm es Dick an, in seinem Zimmer, bereitete sein Referat vor. Sigrid meinte, sie müsse sich um Büroarbeiten kümmern. Sie neige dazu, diese unangenehmen Arbeiten immer wieder aufzuschieben, aber es müsse sein. Mit dem Computer gehe alles viel schneller. Kurze Zeit später erklang nicht das Tippen einer Computertastatur, sondern das Ticken der Schreibmaschine, was deutlich lauter zu hören war.
„Meine Tochter ist, zumindest in dieser Hinsicht, etwas misstrauisch, was die moderne Technik angeht. Wenn es jetzt einen Stromausfall geben würde, so sind die Unterlagen zumindest auf der Schreibmaschine, die notfalls mit einer Handkurbel funktioniert, gesichert.“, meinte Friedrich neutral.
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Kapitel 491

Beitrag von Andrea1984 »

„Dann wollen wir hoffen, dass uns heute keiner trifft. Ihr habt doch Kerzen oder Taschenlampen im Haus?“, Dick blickte mit großen Augen, wie ein Kaninchen, um sich.
„Ja, es ist alles vorhanden. Und zwar dort, wo ich es auch im Dunkeln finden kann. Einen Stromausfall haben wir ab und an schon einmal gehabt. Zum Beispiel an diesem Tag, an welchem im Forst einige Bäume gefällt worden sind und einer davon genau die Stromleitung getroffen hat. Geplant gewesen ist das natürlich nicht. Die Forstarbeiter haben sich entschuldigt und den Baum so rasch, wie möglich entfernt.“
„Uff, jetzt bin ich beruhigt. Früher habe ich mir nie wirklich Sorgen gemacht.“, gab Dick offen zu.

Dann plauderte sie noch ein wenig mit Friedrich, darüber wie die Geschäfte gingen und dergleichen mehr.
„Ich bin auch nicht dafür, dass Sigrid unbedingt noch ein weiteres Kind haben möchte.“
„Weil die Arbeit des Kinder hütens an dir hängenbleibt?“, vermutete Dick.
„So ist es. Außerdem ist Sigrid nicht mehr die jüngste. Die Schwangerschaften mit Nina, Dora und Franz sind sehr beschwerlich gewesen.“

Das vertrauliche Gespräch fand in der Küche, weit genug weg von Sigrids Arbeitszimmer, statt, so dass weder Sigrid, noch die Kinder mithören konnten.
„So? Das habe ich gar nicht gewusst.“, zeigte sich Dick entsetzt. „Nach außen hin, hat Sigrid immer so getan, als wenn nichts gewesen wäre.“
„Wenn sie nur endlich Alexander heiraten würde, dann wäre alles einfacher.“
„Er kümmert sich doch um die Kinder?“, hakte Dick nach. Das musste sie jetzt wissen, obwohl sie es eigentlich nichts anging.
„Natürlich. Es sind ja auch seine. Auf den Immenhof dürfen sie jederzeit kommen, zumindest hat Alexander das behauptet.“
Dick verriet nun, dass Rafe und Henny inzwischen das Sagen auf dem Immenhof hatten.
„Nun so werde ich mit den beiden reden, ob die Besuche der Kinder auch weiterhin erlaubt sind.“
„Ich denke schon.“, antwortete Dick. „Allerdings in diesem Jahr wohl eher nicht mehr. Henny braucht Ruhe und muss wieder zu Kräften kommen. Sigrid hat dafür bestimmt Verständnis, von Frau zu Frau.“
„In dieser Hinsicht gewiss. Dafür in anderer nicht.“
„Meinst du wegen Alexander, dass sie ihn mit ihrer Forderung ständig unter Druck setzt?“
„Immerhin ist sie ihm all die Jahre über treu geblieben, wäre hätte das gedacht.“, Friedrich zählte etwas an den Fingern ab. „20 Jahre sind es schon, seit deren Beziehung begonnen hat.“
Dick fiel vor Schreck beinahe die Kinnlade herunter: „So lange. Ich hätte gedacht, 12 oder höchstens 13 Jahre.“
„Paul wird bald 13, das stimmt. Doch Sigrid und Alexander sind schon vorher zusammen gewesen, sozusagen.“
„Jetzt ist mir gerade was eingefallen. Wenn Paul bald 13 wird, dann müsste er 1982 geboren sein.“
„Das ist richtig, aber was …“
„Entschuldige, dass ich dich so unterbreche. Alexanders Mutter ist 1981 gestorben. Das steht auf dem Grabstein drauf. Demnach hat Alexander, nach dem Tod seiner Mutter, Trost bei Sigrid gesucht.“
„Und das Resultat dieses Trostes ist Paul. Das hast du ganz richtig nachgerechnet.“, ergänzte Friedrich. „Niemand außer dir ist bisher draufgekommen.“
„Was sagen die Leute im Dorf dazu? Wie finden sie diese Beziehung von Sigrid und Alexander?“
„Eigentlich recht normal. Zumindest habe ich bisher nichts gegenteiliges gehört. Mutter Carsten hat mir einmal erzählt, dass alle Dorfbewohner geschlossen hinter Alexander stehen und, wenn es wirklich nötig sein soll, ihn notfalls auch vor Gericht unterstützen würden. Immerhin ist Dalli ihm auch fremdgegangen, also hat sie kein Recht darauf, ihn wegen seiner Beziehung mit Sigrid zu tadeln.“

Dick erzählte nun, was damals, im Sommer 1962, geschehen war und fügte hinzu, dass Dalli sich mit ihrem Verhalten wohl die Gunst der Dorfbewohner ein für allemal verspielt hatte.
„Das wäre eine Erklärung dafür. Ich weiß es nicht, weil ich Dalli kaum kenne. Und das wenige, was ich über sie erfahre, immer nur rein subjektiv ist. Bis jetzt habe ich nur Erzählungen über sie gehört, nicht immer nur gute.“
„Das Gespräch bleibt doch unter uns. Bitte.“, meinte Dick und setzte ihren treuherzigsten Blick auf.“
„Ja, das ist doch selbstverständlich.“, versprach Friedrich. „So jetzt sehe ich mal nach den Kindern. Wer weiß, was sie so alles anstellen, wenn ihnen niemand auf die Finger guckt.“
„Kinder können sich ruhig ein wenig austoben. Erwachsen werden sie von ganz alleine.“
„Man soll Kinder nie erziehen, sie machen einem ja doch alles nach. Das hat Karl Valentin gesagt. Er hat selbst zwei Töchter gehabt, also gewusst, was er mit diesem Satz gemeint hat.“, sagte Friedrich.
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Mo 31.Dez.2018 18:03, insgesamt 1-mal geändert.
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Kapitel 492

Beitrag von Andrea1984 »

Kurze Zeit nach diesem Gespräch flaute der Sturm ab, so dass Dick heil und gesund auf den Immenhof zurückkehren konnte. Allerdings nicht zu Fuß, sondern in Sigrids Auto. Dick winkte ihrer Freundin lange nach, als jene sich auf den Rückweg ins Forsthaus machte und war erleichtert, als ein Anruf kam.
„Wo ist eigentlich Chrissy? Ich habe sie dieser Tage kaum gesehen oder bilde ich mir das nur ein?“
„Chrissy ist nicht hier. Sie verbringt ihre Schulferien lieber mit Freunden in Hamburg, als mit ihrer Familie auf dem Land.“, ,antwortete Alexander. „Was soll’s. Ich kann es ihr nicht verbieten, sie ist so gut wie erwachsen. Und wenn sie einen über den Durst trinkt, so muss sie damit klarkommen.“
„So gut wie, aber noch nicht ganz. Wenn ihr etwas zustoßen sollte …“
„Chrissy hat ja ein Handy und immer etwas Geld bei sich. Wenn alle Stricke reißen, darf sie bei Bobby und Hasso übernachten. Die beiden haben es ihr angeboten. Den Weg zu deren Wohnung kennt sie inzwischen beinahe im Schlaf, so dass ich mir in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen brauche.“

Dick verbrachte nun wieder mehr Zeit mit Ralf, den sie sehr vermisste hatte, auch wenn sie nur ein paar Stunden getrennt gewesen waren. In ihrer nun schon über 30jährigen Ehe war sie verliebt in ihren Mann, wie am ersten Tag und war fest davon überzeugt, noch weitere 30 Jahre im Ehestand zu verbringen.
„Meine Eltern sind nicht einmal halb so lange verheiratet gewesen.“, dachte Dick. „Zumindest nehme ich das an. Wenn nur dieser Krieg nicht gewesen wäre. Wer weiß, dann wären Angela, Dalli und ich noch immer in Ostpreußen geblieben, hätten dort gelebt und wären nie auf den Immenhof gekommen. Schluss damit. Es bringt nichts, ewig in der Vergangeheit herumzukramen. Ich will lieber in die Zukunft blicken und bin gespannt, was mir die nächsten Jahre bringen werden. Vermutlich noch einige Enkelkinder, eventuell sogar Urenkelkinder, aber soweit plane ich jetzt noch nicht voraus.“

Dick hatte sich schon immer den Gegebenheiten angepasst, nie gejammert, sondern ihre Pflichten erfüllt, so gut sie es vermochte. Inzwischen war sie froh, sich ab und an, etwas Ruhe zu können, wenn ihr Körper meinte, er habe diese nötiger als Arbeit. Ruhe fand Dick, wie eh und je, besonders, wenn sie mit den Pferden und den Ponys zu tun hatte. Sei es, beim Ausreiten oder einfach nur bei der Stallarbeit. Da gab es immer genug zu tun. Dick ging hinüber zum Stall, wo Ole damit beschäftigt war, die Boxen auszumisten. Dick bot ihre Hilfe an. Ole brummelte etwas, dass nach „Ja“ klang. Dick nahm eine Mistgabel und griff zu.
„Sie machen das gut, gnädige Frau.“, meinte Ole anerkennend.
„Ich bin doch mit Pferden und Ponys aufgewachsen, wusstest du das nicht?“
„Nee. Der alte gnädige Herr hat mir nie etwas davon erzählt und die Seejungfrau schon gar nicht.“
Dick begriff, dass Dalli mit dieser Bezeichnung gemeint war, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
„Auch der junge gnädige Herr arbeitet fleißig hier mit. Ich bin wirklich froh darüber. Meine Knochen sind nun auch nicht mehr die jüngsten. So, diese Reihe hier, dann sind wir fertig und können uns ins Warme zurückziehen. Stine hat versprochen, einen Kuchen zu backen.“
„Das ist doch viel zu viel Arbeit für sie.“, rief Dick beinahe entsetzt aus, so dass einige der Pferde wieherten und mit den Hufen aufstampften. „Ist ja schon gut. Ihr seid nicht gemeint.“
„Stine möchte es so haben. Sie ist das arbeiten gewöhnt und ich auch. Was sollen wir denn sonst tun? Für die Rente sind wir beide noch zu jung.“, Ole klopfte Rasputin, der neben ihm in der Box stand, sanft auf die Kruppe. „Geh mal beiseite, ich muss dein Lager säubern. Und dich gleich mit dazu.“
„Arbeitet die junge gnädige Frau auch hier mit?“
„Klar doch. Allerdings hat sie sich in den Wochen, bevor sie das Baby bekommen hat, ein wenig geschont und mehr im Haus, als draußen oder hier im Stall aufgehalten.“
„Was sagst du zu dem Kleinen?“
„Naja, ganz nett. Wie Babys eben so sind.“, Ole bückte sich, um Rasputins Hufe auszukratzen, während der Hengst angebunden in der Box stand und Heu aus der Krippe mampfte. „Ich kann mit denen nichts anfangen, aber Stine ist ganz wild drauf. „Wenn dass die alte gnädige Frau noch erleben würde.“, so sagt Stine immer wieder. Dabei ist das doch nichts neues. Wenn ich an die vielen Kinder von Frau Schmid, von denen die ersten drei ja noch zu Lebzeiten der alten gnädigen Frau, hier auf dem Immenhof, geboren worden sind. Ja, das ist vielleicht ein Theater gewesen, damals.“

Dick kannte die Geschichte noch nicht und hörte aufmerksam zu.
„So nun sind wir fertig.“
„Tatsächlich. Das ging ja wie mit der Eisenbahn. Ich habe jetzt Durst wie ein Ochse.“
Dick war auch froh, wieder in die warme Stube zu kommen.
„Mein Magen knurrt wie ein räudiger Hund.“
„Der Kuchen ist bestimmt schon fertig. Sie können sich auf Stine verlassen.“, meinte Ole freundlich.
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Kapitel 493

Beitrag von Andrea1984 »

Nicht nur auf Stine, sondern auch auf Ralf konnte sich Dick verlassen. In guten, wie in schlechten Tagen. Aus diversen Gründen hatten Dick und Ralf 1961 nur standesamtlich geheiratet und planten eine kirchliche Feier für den 50. Hochzeitstag, der, so Gott wollen würde, 2011 stattfinden sollte.
Doch das Jahr 2011 lag noch in weitere Ferne. Vorerst hatten Dick und Ralf andere Pläne. An diesem Tag genoss Dick die Idylle auf dem Immenhof und schaffte es sogar, abends früh zu Bett zu gehen und einige Seiten in ihrem neuen, spannenden Buch, dass sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, zu lesen, was normalerweise nur selten möglich war. Dick hatte eigentlich gehofft, das Buch noch vor dem Jahreswechsel fertig zu lesen, doch dem war nicht so, da am nächsten Tag einige Besuche auf dem Plan standen. Genauer: Tagesausflüge nach Lübeck. Erst zu Anna und ihrer Familie und dann zu Margot und deren Familie.

Dick war mit diesem Plan absolut nicht einverstanden, da sie sich lieber mehr Ruhe gegönnt hätte. Aber was soll’s. So oft sah sie ihre verheirateten Töchter nun auch wieder nicht, da jede von ihnen ihr eigenes Leben lebte. Dick biss also in den sauren Apfel, packte ihren kleinen Reiserucksack zusammen und machte sich, gemeinsam mit Ralf auf den Weg nach Lübeck. Aus Kostengründen nahmen die beiden die Bahn. Das Auto ließen sie auf dem Immenhof stehen.

Bei Anna wurden sie zum Brunch eingeladen, einer Mischung aus Breakfast und Lunch, also einem verspäteten Frühstück oder einem frühen Mittagessen. Dick lobte nicht nur das gute Essen, sondern auch die neue Einrichtung.
„Ich hätte unsere alte Wohnung beinahe nicht mehr wiedererkannt.“
„Ja, wir können es uns leisten, mit der Zeit zu gehen.“, meinte Anna, beinahe etwas überheblich. „Möchtest du noch einen Kaffee, Mutter oder lieber einen Tee?“
„Ein zweiter Kaffee ist mir schon recht.“, Dick unterdrückte mühsam ein Gähnen.
„Das kommt davon, weil du viel zu früh aufstehst. Schlaf doch mal ein Stündchen länger, als sonst.“
„Das wäre schade um den Tag.“, antwortete Dick beinahe etwas heftig, nahm die Tasse, welche ihr Anna herhielt, entgegen. „Außerdem bringe ich am Vormittag naturgemäß am meisten weiter.“
„Ihr habt doch einige Zeit frei?“, Anna hob eine schmalgezupfte Augenbraue.
„Ich mag es nicht, soviel freie Zeit zu haben. Was soll ich nur damit anfangen. Heute wäre eigentlich mein Ruhetag gewesen, doch Margot und du, ihr habt mich verplant.“
„Und zwar mit voller Absicht. Margot und ich haben diese Idee schon länger gehabt.“, Anna, die gegenüber von Dick am Tisch saß, bot etwas von dem Obstsalat an. Ralf nickte, griff zu.

Nach dem Brunch wurden die Kinder hereingebracht. Dick stellte fest, wie groß ihre Enkelsöhne schon geworden waren und redete mit ihnen, als ob sie bereits Erwachsene wären. Anna meinte, die Kinder seien sehr klug, verstünden jedes Wort. Eric wolle oft nicht hören, dies läge nur an der Trotzphase. Tim sei da noch etwas pflegeleichter und Mona, die noch in den Windeln lag, sowieso.
„Ich erinnere dich in ein paar Jahren noch einmal daran.“, neckte Dick.
„Woran?“
„Was das „pflegeleicht“ angeht. Da ist jedes Kind anders. Doch ihr werdet das schon sehen.“
„Ich werde, bei Bedarf, auf deine Anregung zurückkommen.“, antwortete Anna. „Hast du dir die Wohnung eigentlich schon genauer angesehen?“
„Äh nein, es ist alles so schnell gegangen. Das Esszimmer, in welchem wir den Brunch eingenommen haben, ist doch früher nicht da gewesen.“
„Du sagst es. Kannst du das hier sehen? Da ist einmal eine Wand gewesen. John und ich haben zwei kleinere Räume in einen großen umgewandelt. Hier haben sich früher einmal die Kinder- oder vielmehr die Jungmädchenzimmer von Margot und mir befunden.“
„Ich hätte den Raum beinahe nicht wiedererkannt. Ihr habt ihn neu gestrichen und mit neuen Möbel versehen. Auf diese Weise wirkt der Raum größer als er eigentlich gewesen ist.“, Dick nickte wohlwollend. John und Anna hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Vermutlich von einigen Helfern oder Helferinnen unterstützt, die Zeit und Muße zum Mitarbeiten gehabt hatten.

Das ehemalige Wohnzimmer diente nun als Küche oder eher als Wohnküche. Eine Längsseite des Zimmers wurde von dem Herd und der Arbeitsplatte, sowie dem Kühlschrank und einem Küchenschrank vollständig in Anspruch genommen. Auf der rechten Seite der Arbeitsplatte hatte gerade eine Mikrowelle Platz. Noch so ein neumodisches Gerät, welches Dick überhaupt nicht gefiel, doch sie machte gute Miene zum bösen Spiel. Gegenüber der Küchenzeile standen die Wohnzimmermöbel: Ein Sofa, zwei weiche Stühle und ein Tisch. Umrahmt wurde alles von einer Bücherwand aus dunklem Holz. Die Bücherwand war jedoch nur spärlich bestückt. Dick erinnerte sich daran, dass Anna schon früher nie gerne gelesen hatte. Johns Lesegewohnheiten kannte sie nicht so gut. Ob und was die Kinder lasen oder vielleicht auch nicht, konnte Dick nur erahnen, nur vermuten.
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Kapitel 494

Beitrag von Andrea1984 »

Das Badezimmer war zwar als solches belassen, aber auch umgebaut worden. Anstatt der Badewanne gab es nur eine Dusche und zwei Waschbecken. Der Spiegelschrank war mit vielen Cremen, Seifen und dergleichen mehr überfüllt. Auf dem Handtuchhalter hingen zwei frische Handtücher. Es roch nach einem Putzmittel, welches Dick nicht sicher zuordnete. Offenbar hatte Anna die freien Tage, jetzt zwischen Weihnachten und Neujahr zum Reinigen der Wohnung genützt.

In der Wohnküche stand, in einer Ecke nahe an dem Fenster, an welchem man auf die Hauptstraße hinuntersehen konnte, der Christbaum, liebevoll mit Kugeln, Bändern und Kerzen geschmückt. Es roch nach Harz und Tannennadeln. Dick hätte gerne das Fenster geöffnet, doch sie wagte es nicht, da sie den Verkehrslärm von früher nur allzu gut in Erinnerung hatte und außerdem nur Gast hier war.
„Heute ist es ruhig in der Stadt. Fast alle Leute sind, wie sagt man, ausgeflogen.“, ergriff nun John das Wort.
„Wenn ihr wollt, können wir eine Runde spazieren gehen oder ins Kino.“
„Eine gute Idee. Nur: Wer gibt auf die Kinder acht? Ich denke nicht, dass sie solange alleine bleiben können.“, gab Dick zu bedenken.
„Wie wäre es damit, das neue Thermalbad zu besuchen? Oder habt ihr keine Badekleidung mit?“
Dick fand den Vorschlag gut und meinte, wenn es wirklich nötig sei, so könne sie sich ja von Anna einen Badeanzug oder einen Binkini ausleihen. Ralf könne dergleichen bei Johns Sachen ausführen.

Gesagt, getan. Das Thermalbad war an diesem Tag recht gut besucht, allerdings nicht, wie Dick befürchtet hatte, überfüllt, so dass sie in Ruhe eine Klatschzeitung, die es dort am Kiosk gab, kaufen und lesen konnte, während John und Ralf mit den Kindern ins Wasser gingen. Später ruhten sich die Herren und die Kinder aus. Dick war noch nie hier gewesen und musste sich daher an Anna orientieren, wo es die Toiletten, die Umkleideräume, die Liegeflächen und dergleichen mehr gab.

„Komm, wir schwimmen nach draußen. Das Wasser ist herrlich warm.“
„Ja, aber….“
„Deine Haare werden doch so oder so nass. Nur Mut. Immer mir nach.“
Dick schwamm hinter Anna her, solange bis sie zu einer Art Vorhang kamen. Anna schob ihn beiseite.
„Alter vor Schönheit.“
„Du hast dich wirklich nicht verändert.“
„Hier kann man sich herauflegen. Gib acht, wenn du deinen Körper aus dem Wasser streckst. Dann merkst du erst, wie kalt es draußen wirklich ist.“
Dick streckte sich auf der Bank aus. Plötzlich kribbelte es.
„Was ist das?“
„Eine Düse. Sie wird nur alle halbe Stunde, so glaube ich zumindest, eingeschaltet. Wenn du auf dem Rücken liegen bleibst, wird dieser von der Düse massiert. Ich lasse mir lieber den Bauch massieren.“
„Du hast abgenommen.“, stellte Dick anerkennend fest.
„Yoga sei dank. Und meinen Kindern auch. Ich laufe täglich hinter ihnen her. Kaum sitzt Eric ruhig, schon fordert Tim meine Aufmerksamkeit oder umgekehrt. Und wenn, was selten vorkommt, beide still sind, so schreit Mona nach mir. Es ist gar nicht so einfach, drei Kindern gerecht zu werden. Jetzt weiß ich, wie es dir damals ergangen ist oder kann es mir zumindest vorstellen.“
„John hilft dir im Haushalt?“
„Ja, das tut er. Und es macht ihm Spaß. Er kann auch schon einfache Gerichte kochen. Die Kinder haben sich nicht darüber beschwert.“, Anna drehte ihre feuchten Haare zu einem Knoten nach oben, steckte sie mit Klemmen, die sie aus ihrem Binkioberteil herausnahm, sorgfältig fest.

Für einen Moment schloss Dick die Augen, entspannte sich, bis sie von Anna geweckt wurde.
„Mir ist es zu kalt und meine Haare sind nass. Komm, wir schwimmen wieder nach drinnen.“
„Kann man dort noch etwas anderes erleben, als nur hin und her schwimmen?“
„Ja. Zum Beispiel im Aromadampfbad sitzen und uns alle Sünden herunterschwitzen. Es befindet sich direkt neben unserem Platz auf dem Bereich neben den Liegen.“
Dick fühlte sich, sowohl im warmen Wasser, als auch im trockenen Aromadampfbecken herrlich wohl und genoss jede einzelne Minute. Wieviel der Eintritt gekostet hatte, wusste Dick nicht, da Anna und John gemeinsam alles bezahlt hatten. Nach dem Schwimmen und dem Besuch des Aromadampfbeckens, ging Dick wieder zu den Männern zurück, während Anna die Toilette aufsuchte.
„Hat jemand von euch eine Uhr? Ich habe fast die Zeit übersehen.“
„So ist es mir beim ersten Besuch hier auch ergangen. Keine Angst, ihr seid nicht zu spät dran. Sieh nur, da an der Wand hängt eine Uhr. Wir haben noch exakt eine Dreiviertelstunde Zeit für alles, das in diesem Fall Haare waschen und umkleiden bedeutet, da sonst die Eintrittskarte abläuft.“, meinte John.
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Kapitel 495

Beitrag von Andrea1984 »

Dick hatte das, bis dato, nie gewusst, da sie ja, wenn überhaupt, nur im See geschwommen war, so es die Witterung zugelassen hatte. Nun stellte Dick fest, dass ihr auch das Thermalbad gefiel. Nach dem Besuch dort, verabschiedeten sich Dick und Ralf von Anna, John und deren Kindern. Es war zwar noch früh am Tag, aber die Kinder waren quengelig. Dick deutete dies als Müdigkeit und verstand den Rückzug der kleinen Familie in deren eigene vier Wände nur allzu gut.

Als nächstes ging Dick und Ralf auf den Friedhof, wo sich das Grab von Ralfs Eltern befand. Anstatt eines protziges Steines war dort nur ein schlichtes Holzkreuz mit dem Namen und den Lebensdaten von Anselm Schüller. Dick wusste von der Verwaltung her, dass es einige Zeit dauerte, bis der Stein wieder da und vollständig beschrift werden würde. Ralf zündete eine Kerze an, stand vor dem Grab, betete, schluckte kurz auf, betete weiter. Dick spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Ja, sie vermisste ihren Schwiegervater mehr als ihren richtigen Vater, den sie nie wirklich kennengelernt hatte. Ob es von jenem überhaupt ein Grab gab, wenn ja, wo es sich befand, wusste Dick nicht.

Nach dem kurzen Abstecher am Friedhof, kamen Dick und Ralf nun zu Margot, Eduard und deren Familie, welche in einem Reihenhaus am Stadtrand von Lübeck lebten. Dort herrschte deutlich mehr Trubel als in der kleinen Wohnung. Dick vermutete, dass die Kinder deshalb frei herumtoben durften, weil es keine direkten Nachbarn, sondern nur ein kleines Wäldchen und einen Bach dazu, gab.
Margot war die Ruhe selbst und schaffte es, wie Dick anerkennend beobachtete, die Kinder zu bändigen. Eduard stand ihr dabei, wie selbstverständlich zur Seite. Die beiden waren ein eingespieltes Team. Und das obwohl oder gerade weil sie erst 5 Jahre verheiratet waren.

Auch hier gab es in vielen Räumen moderne Technik, ohne dabei jedoch überladen zu wirken. An diesem Tag blieben allerdings sowohl der Fernseher, als auch der Computer außer Betrieb. Nach dem Schwimmen und dem Spaziergang auf den Friedhof, fühlte sich Dick hungrig und war froh, als Margot das Abendessen auftrug. Die Speisen waren kräftig und gut gekocht, so dass jeder davon satt wurde.
„Wenn Margot wirklich ein halbes Dutzend Kinder vor ihrem 30. Geburtstag haben will, dann muss sie sich aber beeilen. Noch ist sie ja nicht wieder schwanger.“, dachte Dick, während sie ihre jüngere Tochter aus den Augenwinkeln betrachtete. „Und wenn sie es nicht schaffen sollte, dann eben nicht. Anders als Billy hat sie keine Hilfe in Form eines Kindermädchens, obwohl sie es sich leisten könnte.“

Nach dem Essen wurde noch ein wenig geplaudert, was es neues gab und Pläne für das neue Jahr geschmiedet. Dick erfuhr, dass Christoph bereits in einen Kindergarten ging, allerdings jetzt in den stillen Tagen im Jahr, frei hatte.
„Er hat sich dort richtig gut eingelebt. Die Gesellschaft der anderen Kinder tut ihm wohl.“
„Die hat er doch hier zu Hause auch?“
„Ja schon. Nur: Hier muss er ein Vorbild für die Kleinen sein oder glaubt es zumindest. Im Kindergarten hingegen ist er mit gleichaltrigen zusammen, spielt und bastelt, ohne Druck von oben.“
„Wie lange dauert die Zeit im Kindergarten?“
„Zwei Jahre. Dann ist Christoph 6 Jahre alt und darf zur Schule gehen.“, erzählte Margot mit leuchtenden Augen, während sie den kleinen Hermann auf dem Schoß hielt und ihn mit Eis, dass es zum Nachtisch gab, fütterte. „Bei den anderen Kindern werden wir es genauso handhaben.“
„Außerdem sind im Kindergarten alle gleich.“, ergänzte Eduard. „Keines der Kinder wird bevorzugt oder benachteiligt, wenn es um Spiele oder Bastelaktivitäten oder etwas anderes geht.“
„Müsste Eric nicht auch bald alt genug sein, um ebenfalls in den Kindergarten zu gehen?“, rechnete Dick nach. Sie konnte es kaum fassen: Ihre Enkelkinder wurden langsam groß.
„Das stimmt, er ist im gleichen Jahr wie Christoph geboren, aber erst im November. Der erforderliche Stichtag ist der 31. August.“, antwortete Margot. „Also wird Eric sich noch gedulden. Ich glaube, er möchte gar nicht von daheim weg, zumindest habe ich, bei Besuchen drüben, diesen Eindruck gewonnen. Eric und Tim spielen friedlich miteinander. Ab und an streiten sie sich, doch das ist wohl normal unter Geschwistern.“
„Hier in der Stadt gibt es mehrere Kindergärten. Wir wohnen in einem anderen Sprengel als Anna und John. Somit kommt Eric zwar 1995 in den Kindergarten, allerdings nicht gemeinsam mit Gudrun, sondern mit anderen Kindern, die er noch nicht kennt.“
„Achso ist das, das habe ich nicht gewusst.“, meinte Dick höflich. Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht. Ihre Kinder waren in Kanada aufgewachsen, wo es keinen Kindergarten gegeben hatte. Und sie selbst war, so sie sich erinnern konnte, auch nie in einem Kindergarten oder Kinderhort gewesen.
„Im Kindergarten sind auch Mädchen in der Gruppe von Christoph. Er verhält sich ihnen gegenüber wie ein Kavalier, so haben es mir die Erzieherinnen berichtet, wie ich ihn abgeholt habe.“, ergriff Eduard wieder das Wort, löffelte langsam und bedächtig sein Eis. „Das Verhalten gefällt mir.“
Zuletzt geändert von Andrea1984 am Sa 30.Sep.2017 20:38, insgesamt 1-mal geändert.
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